Schweigen, tierisches  «Ich bin nur ein geflügeltes Tier», sagte der Vogel, «aber ich entstamme der Zeit, da noch alle Tiere sprachen und Vögel, Schlangen. Eselinnen, Pferde und Greife sich vertraulich mit den Menschen unterhielten. Vor all den Menschen wollte ich nicht sprechen aus Angst, Eure Hofdamen könnten mich für einen Zauberer halten. Nur Euch will ich mich offenbaren.»

Formosante, die von so vielen Wundern höchst überrascht und begeistert war und am liebsten gleich hundert Fragen auf einmal gestellt hätte, wollte zuerst wissen, wie alt er sei. «Siebenundzwanzigtausendneunhundert Jahre und sechs Monate, Herrin. Ich stamme aus der Zeit der kleinen Himmelsumdrehung, die Eure Magier die Präzession der Tagundnachtgleichen nennen, die sich m ungefähr achtundzwanzigtausend Eurer Jahre vollzieht. Es gibt noch unendlich viel längere Umwälzungen, und es existieren auch noch viel ältere Wesen als ich. Vor zweiundzwanzigtausend Jahren lernte ich auf einer meiner Reisen Chaldäisch und habe immer eine große Vorliebe für diese Sprache gehabt. Die anderen Tiere aber, meine Brüder, haben unter Eurem Himmel auf das Sprechen verzichtet.» —

«Und warum, mein göttlicher Vogel?» —

«Ja, weil die Menschen schließlich die Gewohnheit angenommen haben, uns zu verspeisen, anstatt sich mit uns zu unterhalten und weiterzubilden. Diese Barbaren! Hätten sie nicht überzeugt sein müssen, daß wir, die wir dieselben Organe, dieselben Empfindungen, Bedürfnisse und Begierden haben wie sie, auch gleich ihnen das besitzen, was man eine Seele nennt, daß wir ihre Bruder sind und daß man nur Bösewichte in den Topf tun, braten und aufessen darf? Wir sind so weit mit Euch verbrüdert, daß das höchste, das ewige und schöpferische Wesen, nachdem es einen Bund mit den Menschen geschlossen hat, uns ausdrücklich in diesen Vertrag mit einbezog. Er hat Euch verboten, Euch von unserem Blute zu nähren, und uns, das Eure auszusaugen. Die Fabeln Eures alten Lokman, die in so vielen Sprachen übersetzt worden sind, werden ein ewiges Zeugnis für den beglückenden Umgang sein, den Ihr einstmals mit uns gepflogen habt. Alle beginnen mit den Worten: Zu der Zeit, als die Tiere noch sprachen... Freilich sprechen heute noch viele Eurer Frauen mit ihren Hunden, aber diese haben beschlossen, nicht zu antworten, seit man sie mit Peitschenhieben gezwungen hat, mit auf die Jagd zu gehen und am Mord unserer alten gemeinsamen Freunde, der Hirsche, Rehe, Hasen und Rebhühner mitschuldig zu werden.

Bei Euch gibt es noch alte Gedichte, in denen die Pferde reden, und Eure Kutscher richten jetzt noch tagtäglich das Wort an sie; aber es geschieht mit so viel Roheit, und sie gebrauchen so schändliche Ausdrücke, daß die Pferde, die Euch früher so zugetan waren, Euch heute verabscheuen.»  - Voltaire, Die Prinzessin von Babylon. In: V., Mikromegas. Stuttgart 1985 (Die Bibliothek von Babel 28, Hg. Jorge Luis Borges)

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