chwanzlosigkeit   Er hatte sich mit dem Rücken zu mir vor das Terrassengeländer gehockt und glotzte auf den kleinen Garten hinab. Obwohl er, was sein Körpervolumen betraf, locker mit einem Medizinball konkurrieren konnte und seine ganze Gestalt einer drolligen Knetmassenfigur aus einem experimentellen Videoclip glich, bemerkte ich sofort, daß er keinen Schwanz besaß. O nein, er war kein von Natur aus Schwanzloser, man hatte ihm das kostbare Stück einfach abgeschnitten. So schien es jedenfalls. Er war eindeutig eine Maine-Coon, eine schwanzlose Maine-Coon. Es fällt mir schwer, seine Fellfarbe zu beschreiben, denn der Typ sah tatsächlich wie eine wandelnde Malerpalette aus, deren Farben allerdings vertrocknet und schmutzig geworden waren. Der dominierende Farbton war zwar schwarz, doch mischten sich überall beige, braune, gelbe, graue, ja sogar rote Tupfer mit hinein, so daß er von hinten aussah wie eine riesengroße, etwa sieben Wochen alte Schüssel Obstsalat. Außerdem schien der Kerl fürchterlich zu stinken.

Gleich würde er mich bemerken und eine Großoffensive starten, weil wahrscheinlich schon sein Urgroßvater auf diese Terrasse gekackt hatte oder weil er bereits 1965 vor dem Obersten Gerichtshof die Sondergenehmigung für sich erstritten hatte, jeden gottverdammten Tag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr von hier oben auf diesen wundervollen Garten hinabzuglotzen. Es war schon ein Kreuz mit diesen Brüdern.

Ich ließ es darauf ankommen. Was blieb mir übrig?

Und als wäre er so eine Art lebender Radar, drehte er sich in dem Moment, in dem mir das alles durch den Kopf schoß, zu mir und starrte mich an - das heißt, starren war vielleicht zuviel gesagt. Er hatte nur noch ein Auge, das andere war offenbar das Opfer eines nervösen Schraubenschlüssels geworden oder infolge einer Krankheit ausgelaufen. Dort, wo vorher das linke Auge gewesen war, befand sich nun eine verschrumpelte, rosarote und im Lauf der Zeit immer häßlicher gewordene Fleischhöhle. Überhaupt war die gesamte linke Visagenhälfte, wohl infolge einer halbseitigen Gesichtslähmung, zusammengefallen. Aber das bedeutete nicht viel. Mir war klar, daß höchste Vorsicht geboten war.   - Akif Pirinçci, Felidae. München 1990 (zuerst 1989)

 

Schwanz

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme