Schulaufgaben   In meinen Träumen tauschte ich den Platz oft mit meiner Schwester, erlitt die ihr zugefügten Qualen und nährte sie mit meinem überempfindlichen Gehirn. In diesen Träumen, die immer vom Lärm splitternden Glases, von Schreien, Flüchen, Stöhnen und Schluchzen begleitet waren, erwarb ich mir eine instmktive Kenntnis der antiken Mysterien, der Initiationsriten, der Seelenwanderung und so weiter. Es konnte mit einer Szene aus dem wirklichen Leben beginnen - meine Schwester stand an der Wandtafel in der Küche, die Mutter, mit einem Lineal in der Hand drohend über sie gebeugt, fragte: «Zwei und zwei macht wieviel?» Und die Schwester schrie: fünf. Klatsch! Nein, sieben. Klatsch! Nein, dreizehn, achtzehn, zwanzig! Während dieser Szenen saß ich, genau wie im wirklichen Leben, am Tisch über meinen Schulaufgaben bis zu dem Augenblick, wo ich mich plötzlich, durch eine kleine Drehung oder Wendung des Traums, vielleicht weil ich das Lineal auf das Gesicht meiner Schwester niedersausen sah, in eine andere Region versetzt fand, in der Glas so unbekannt war wie den Kickapoo- oder den Lenni-Lenapi-Indianern. Die Gesichter der mich umgebenden Menschen waren mir vertraut, sie gehörten meinen Verwandten mütterlicherseits, die mich aus einem geheimnisvollen Grunde in dieser neuen Umwelt nicht erkannten. Sie waren schwarz gekleidet, und ihre Haut war aschfahl wie die der tibetischen Teufel. Alle waren mit Messern und anderen Folterinstrumenten ausgerüstet: sie gehörten zur Kaste der Opferpriester. Ich schien völlige Freiheit und die Macht eines Gottes zu haben, und doch würde es durch eine unberechenbare Wendung der Ereignisse damit enden, daß ich auf dem Opferblock lag und einer meiner reizenden Verwandten mütterlicherseits sich mit einem blinkenden Messer über mich beugte, um mir das Herz herauszuschneiden. Als ich fühlte, wie das Messer mein Herz suchte, begann ich, entsetzt und in Schweiß gebadet, <meine Aufgaben> immer rascher mit hoher, kreischender Stimme aufzusagen. Zwei und zwei ist vier, fünf und fünf ist zehn, Erde, Luft, Feuer, Wasser, Montag, Dienstag, Mittwoch, Hydrogen, Oxygen, Nitrogen, Meozän, Pleozän, Eozän, Vater, Sohn, Heiliger Geist, Asien, Afrika, Europa, Australien, rot, blau, gelb, der Sauerampfer, die Persimone, die Papaya, die Catalpa... Rascher, immer rascher... Odin, Wotan, Parzival, König Alfred, Friedrich der Große, die Hanse, die Schlacht von Hastings, Ther-mopylae, 1492, 1776, 1812, Admiral Farragut, der Sturmangriff Picketts, die Leichte Brigade, wir sind heute hier versammelt, der Herr ist mein Hirte, ich soll nicht, eins und unteilbar, nein sechzehn, nein siebenundzwanzig, zu Hilfe! Mörder! Polizei! - und immer lauter und lauter und rascher und rascher schreiend komme ich ganz von Sinnen und fühle keinen Schmerz und keine Angst mehr, obwohl sie mich überall mit Messern durchbohren.

Plötzlich bin ich ganz ruhig, und der Körper, der auf dem Block liegt und den sie noch immer mit Lust und Begeisterung zerfleischen, empfindet nichts, weil ich, seinBesitzer, ihn verlassen habe. Ich bin ein Turm aus Stein geworden, der sich über die Szene beugt und mit wissenschaftlichem Interesse zusieht. Ich brauche nur dem Gesetz der Schwerkraft nachzugehen, dann falle ich auf sie und zerschmettere sie. Aber ich gebe dem Gesetz der Schwerkraft nicht nach, denn das Entsetzliche des Ganzen fasziniert mich zu sehr. Ich bin so fasziniert, daß mir mehr und mehr Fenster wachsen. Und als das Licht das steinerne Innere meines Ichs durchdringt, fühle ich, daß meine in der Erde steckenden Wurzeln lebendig sind und ich eines Tages imstande sein werde, mich, wenn ich will, aus dieser Trance zu reißen, in der ich erstarrt bin.  - (wendek)

Schule

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