chüchternheit   Swann bat, mit allen bekannt gemacht zu werden, sogar mit einem alten Freund der Verdurins, Saniette, der durch seine Schüchternheit, sein schlichtes Auftreten und sein gutes Herz überall die Achtung eingebüßt hatte, die ihm seine gründliche Kenntnis der europäischen Archive, sein großes Vermögen und seine ausgezeichnete Familie einst eingetragen hatten. Er hatte beim Sprechen etwas Undeutliches, was ihn besonders anziehend machte, da es weniger einen Sprachfehler als vielmehr einen seelischen Vorzug verriet, gleichsam einen Rest von urtümlicher Unschuld, die er nie verloren hatte. Alle Konsonanten, die er nicht aussprechen konnte, standen für ebenso viele Härten, zu denen er nicht imstande war. Als Swann darum bat, ihm vorgestellt zu werden, kehrte Madame Verdurin die Rollen unwillkürlich um (so daß sie, als sie seinem Wunsche entsprach, in folgender Weise den Unterschied betonte: »Monsieur Swann, haben Sie wohl die Güte, mir zu erlauben, daß ich Ihnen unseren Freund Saniette vorstelle?«), aber er rief sofort bei Saniette eine leidenschaftliche Sympathie hervor, von der ihm Verdurins übrigens nie ein Wort sagten, denn sie waren Saniettes etwas überdrüssig und legten keinen Wert darauf, ihm Freunde zu gewinnen.   - Marcel Proust, In Swanns Welt (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt am Main 1965, zuerst 1913 ff.)

Schüchternheit (2) Don Juans Macht kam von seinen Augen. Er brauchte nicht zu erwähnen, daß dabei nicht die Rede sein konnte von irgendwelchen eingeübten Blicken. Nie wollte oder gar plante er derartiges. Und trotzdem war er sich im voraus der Macht oder der Bedeutung, die proklamiert würde im selben Moment, da er die Augen, nein, das Auge auf die Frau richtete, statt etwa herrscherlich eher beinahe ängstlich bewußt.

Die Art und Weise, wie er den vollen Blick auf die Frau so lang wie möglich mied, konnte mit Schüchternheit und Feigheit verwechselt werden, und es war, erzählte er mir, ja in der Tat so etwas wie Schüchternheit, nur ganz und gar keine Feigheit! Sein Auge auf ihr, das hieß: Es gab nun endgültig kein Zurück mehr, für sie beide nicht, und es ging um mehr als bloß den Augenblick, oder eine Nacht. - Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst) Frankfurt am Main 2006 (st 3739, zuerst 2004)

Schüchternheit (3)

Ein armer Schüchterner

  Er zog sie schlicht
Aus der Tasche ans Licht,
Hielt sie jäh in die Höh
Und besah sie von dicht
Und sprach ratlos: 0Oweh!

  Er hauchte und
Nahm sie fast in den Mund;
Dabei schlich ihm, mit Schmerz
Und Entsetzen im Bund,
Ein Gedanke ins Herz.

  Er netzte sie
Mit der Eisträne, die
In dem Augenblick schmolz;
Ihre Kammer war wie
Aus durchlöchertem Holz.

  Er rieb mit Fleiß,
Doch sie wurde nicht heiß,
Sie blieb fühllos und hart
Und entzog sich ihm leis,
Von der Kälte erstarrt.

  Er wog sie dann,
Wie man wägt einen Plan,
Ob die Luft sie wohl trägt.
Und er maß sie, wie man
Das mit Eisendraht pflegt.

  Er hob sie dicht
An sein Runzelgesicht.
Und sie schrie voller Schreck:
Warum küßt du mich nicht?
Lebe wohl, ich muß weg!

  Dann küßte er,
Und er lud sie sich quer
Auf des Leibs blanke Uhr,
Doch die schlug schon kaum mehr
Und verröchelte nur.

  Er griff nach ihr
Mit entschlossener Gier
Und gebot ihren Tod:
Ja, ein Schmaus wie der hier
Macht die Wangen uns rot.

Er faltete sie,
Er spaltete sie,
Er legte sie hin,
Er schnitt sie dünn,
Er wusch sie fein,
Er warf sie rein,
Er briet sie weich,
Er aß sie gleich.

Als er noch klein war, hatte man ihm gesagt: »Wenn du Hunger hast, iß deine Hand!«

- Xavier Forneret, nach (hum)

 

Begegnung Scheu

 

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Zurückhaltung
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