chriftsteller
werden
Als ich zuletzt mit Georg Meidner, seinerseits Künstler, im Dürnbräu
saß, hatte ich plötzlich eine Ahnung, wie es sein kann, wenn ich merke, so,
jetzt mußt du schreiben, sonst springst du aus dem Fenster. Und wäre in diesem
Augenblick voll mit den Genitalien daran beteiligt gewesen. Brecht zu einer
Jugendfreundin: Ich komme gleich nach Goethe. So kann man vielleicht Literatur
definieren: Man schämt sich nicht, so beschämend es auch ist, etwas geschrieben
zu haben. Geneviève Winter weiß noch immer nicht, daß ich ihretwegen in der
forensischen Psychiatrie gelandet bin. Hannelore, als sie noch nicht von Georg
Meidner, seinerseits Künstler, erobert war, ging mit mir durch die Faschings-Stadt.
Sobald uns Betrunkene begegneten, rückte sie näher zu mir. Mir schoß es durch
den Kopf: Du hast dich heute morgen nicht gewaschen. Auf dem Heimweg in einem
Gäßchen, blieb sie stehen, ich auch, sie schlang ihre Arme um mich, preßte ihre
Lippen an meine, schlug mit ihrem Unterkörper gegen den meinen. Mir schoß es
durch den Kopf: Die Güte und Nachsicht der Frauen ist unendlich. Oder schafft
das der Geschlechtstrieb allein? Ich wußte, kurz vor dem Geschlechtsakt (kein
so tolles Wort) würde es mir durch den Kopf schießen, daß ich nichts davon haben
werde. Also würde ich halt noch nach ihren Brüsten oder anderswohin greifen,
mehr wie ein Doktor, bis die Vorstellung des Aneinanderklammerns, des möglichen
Reizes nackter Brüste, des geschwollenen Glieds, des Eindringens völlig verschwindet.
Im Traum einmal exemplarisch: Ich kurz vor dem Eindringen in sie, da, die Stimme
ihrer Mutter: Hannelore, komm mir mal helfen. Was hätte ich davon, wenn ich
wirklich drinsteckte? Samenablaß, basta. Vielleicht alles nur ein Weglaufen
vom Schriftstellerwerden. Misery acquaints a man with stränge bedfellows. Oh
du, mein Erzkollege Shakespeare. - Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002
Schriftsteller
werden(der)
(2)
Schriftsteller
werden
(3) Bei Susns Beerdigung sah ich auf die weißen Seiten
des Gebetsbuchs des Pfarrers. Mein Blick fand am Rand der
Trauergemeinschaft einen gar nicht befremdlichen weißen Hut. Mir fiel
eine weiße Wolke über der Landschaft auf, die sich bewegte. Also war es
doch wahr, daß sich die Erde in unzähligen Formen wandelt, daß sich die
Erde auch heute regte und daß an jedem Tag, den wir leben auch sie lebt
und immer irgendwo an sich arbeitet, ihren Bestand ergänzt und neue
Stoffe und Kräfte den alten hinzufügt. Daß es nur eine Täuschung der
Augen ist zu glauben, die Erde sei fest und fertig. Ich hatte die Lehre
gehört und geglaubt. Und nun mußte ich in einem unbewachten Augenblick
gewahr werden, daß ich nichts gelernt hatte, rein garnichts; daß mir
dieses Fundament aller Weltanschauungen nicht zu eigenem Besitz geworden
war. Niemals bis zu diesem einmaligen unvergeßlichen Augenblick, da ich
zum ersten Mal mit eigenen Augen sah und also zum Schriftsteller wurde:
die Erde lebt! Dort schwebte frei in der Luft wie mit der Schere
abgeschnitten im jungen Weiß des Winterschnees der dreieckige Gipfel des
Vesuv, und aus seiner vertieften Mulde löste sich ein Wölkchen Rauch.
Also war es doch wahr, daß es sich an die Oberfläche bringen ließ und in
die Luft paffen. Und die Wolke bewegte sich auch, als sich der Zug der
dunklen Leute um Susns Grab bewegte, das offen wie ein Krater war, um
den sich die Beerdigungsgemeinde als auffallender Aschenkranz, zum Teil
sogar überhängend, schloß. Ich empfand die Beschäftigung des Schreibens
als eine wahre Wohltat. - (acht)
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