»Kleiner Freund, kannst du ein Geheimnis bewahren?« Ich stimmte eifrig zu. »Ein dunkles, furchtbares Geheimnis?« Ich beruhigte ihn über diesen Punkt.
»Dann werde ich dir ein Stück aus meinem Leben erzählen. Denn, oh!, ich muß meine bedrückte Seele erleichtern, sonst sterbe ich!«
Er warnte mich nochmals, »schweigsam wie das Grab zu sein«. Dann erzählte er mir, er sei ein »blutiger Mörder«. Er legte seinen Hobel beiseite, streckte seine Hände aus, betrachtete sie traurig und sagte:
»Sieh her - mit diesen Händen habe ich dreißig Menschenleben vernichtet!«
Die Wirkung, die dies auf mich hatte, war für ihn eine Anfeuerung und ließ ihn mit Interesse und Energie auf den Gegenstand seiner Erzählung eingehen. Er kam vom allgemeinen Erzählen ab und erging sich in Einzelheiten - begann mit seinem ersten Mord. Beschrieb ihn, erzählte, welche Maßnahmen er ergriffen hatte, um den Verdacht abzuwenden; ging dann auf seinen zweiten, seinen dritten, vierten usw. Mord über. Er hatte die Morde stets mit einem langen Jagdmesser begangen und griff so plötzlich danach, um es mir zu zeigen, daß sich mir die Haare sträubten.
Am Ende dieser ersten Stitzung ging ich mit sechs seiner fürchterlichen Geheimnisse beladen nach Hause und betrachtete sie als große Hilfe für meine Träume, die seit einiger Zeit langweilig geworden waren. Immer wieder suchte ich ihn an meinen freien Samstagen auf; in der Tat, ich verbrachte den Sommer mit ihm - all die Tage, die mir wertvoll waren. Der Reiz, den er auf mich ausübte, ließ nicht nach, denn er fügte jedem erfolgreichen Mord eine neue, aufregende Schreckensart hinzu. Er nannte stets Namen, Ort und Datum - alles. Dies ließ mich nach und nach zweierlei bemerken: daß er seine Opfer in allen Erdwinkeln getötet hatte, und daß diese Opfer stets Lynch hießen. Die Vernichtung der Lynche ging ruhig weiter, Samstag für Samstag, bis die ursprünglich dreißig sich auf sechzig vermehrt hatten - und weitere warteten darauf, erwähnt zu werden. Dann siegte meine Neugierde über meine Ängstlichkeit und ich fragte ihn, wie es käme, daß all diese gerecht bestraften Personen den gleichen Namen trügen.
Mein Held antwortete, daß er dieses dunkle Geheimnis noch keinem Lebewesen aufgedeckt habe, jedoch das Gefühl habe, daß er mir vertrauen könne und mir deshalb die Geschichte seines traurigen und vereitelten Lebens aufdecken werde. Er habe jemanden, der »zu schön für diese Erde« war, geliebt, und sie hatte seine Gefühle mit »der ganzen süßen Zuneigung ihrer reinen und edlen Natur« erwidert. Jedoch er hatte einen Rivalen, einen niedrigen Lohnarbeiter, der Archibald Lynch hieß, der verlangte, daß das Mädchen ihm gehören solle, sonst würde er »sich seine Hände in ihrem Herzblut färben«. Der Schreiner, »arglos und glücklich in seinen jungen Liebesträumen«, beachtete die Drohung nicht weiter und »führte sein goldhaariges Lieb zum Altar« und die beiden wurden vereinigt; eben dort geschah auch, gerade als der Priester segnend seine Hände über ihre Häupter hielt, die grausame Tat - mit einem Messer - und die Braut sank ihrem Gatten tot zu Füßen. Und was tat der Gatte? Er ergiff das Messer und schwor, indem er bei der Leiche niederkniete, daß er sein Leben der Vernichtung alles menschlichen Abschaumes weihen werde, der den verhaßten Namen Lynch trage.
Das war's. Er hatte den Lynchs nachgestellt und sie niedergemetzelt von damals
an bis heute - zwanzig Jahre lang. - Mark Twain, Leben auf dem
Mississippi. Frankfurt am Main 1985 (it 836, zuerst 1883)
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Robert Pinget, Monsieur Mortin. Frankfurt am Main 1966
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