Schraubenmutter   An einem Abend des jüngst vergangenen Winters erhalte ich von einem meiner Genossen auf Lauschposten an einem ländlichen Ort eine Botschaft, die nicht weniger aufgeregt als aufregend war; er hätte, sagte er, eine einzigartige Sache ausgemacht, an die er kaum glauben könne. Indem ich der eiskalten Nacht die Hundstagshitze meiner Wissenslüste entgegensetze, wage ich es, beim Schein des Schnees die Schwärze der Nacht zu durchqueren; ich erreiche meinen Freund, finde ihn wach, in heller Verzückung; mit Gewalt drängt er mich in die alte Scheune, in der einiges Feldgerät aufgehäuft ist: er reicht mir etwas zu, ich weiß nicht woher, ein metallenes Sechseck, die eisige Zelle einer mechanischen Saubohne: eine verrostete, abgenutzte Schraubenmutter, die in ihrem liebeleeren Schoß ein winziges Geflecht birgt; er bedeutet mir, es ans Ohr zu halten. Ich gehorche; und da - ein schwaches Murmeln, und ein Jammern, ein minimaler Schrei, aber nichtsdestoweniger menschlich. Ich bebe, ich zittere, ich verspüre alle Anwandlungen des Deliriums. Dieses also ist der Wohnort der Toten? Und waren die Verstorbenen so winzig, daß alle in diesem knappen Raum Platz fanden? Oder verbarg sie eine raffinierte Unsichtbarkeit? Vielleicht kauerten sie, Ellenbogen an Ellenbogen, entlang den Riffen dieses mikroskopischen Trichters? Wir lauschen den mit Stöhnen vermischten Schreien, Anrufungen, vielleicht Schmähungen. War dies das trübe Reich der Verdammten? Oder eine aus ihrem Mutterland entführte Strafkolonie? Und - neue und beunruhigende Frage - seit wann existierte dieser Gegenstand? Zehn Jahre, nicht mehr. Unterlagen vielleicht die Unterwelten einem Wohnungswechsel? Oder war dies eine erst kürzlich eingeweihte Filiale, ein Satellit für Frischverstorbene, Mörder, deren eigener Tod sie noch nicht von dem des anderen gereinigt hatte, Selbstmörder, die kein Tod je vom eigenen befreien würde?

Nach vielleicht einer halben Stunde verstummte die Schraubenmutter. O Jammer, sie waren also an einen anderen Ort gezogen. Wohin, und wie sie verfolgen? Wo hausen sie, in welcher Hülle, in welchen ausgeklügelten Verstekken, die trügerischen, die flüchtigen Verstorbenen? Ich hoffe nicht mehr darauf, ihnen je wieder so nahe auf die Spur zu kommen. Und was Wissensdurst gewesen ist, ist verzweifelter Gewissenswurm geworden, ein hartnäckiger und zerstörerischer Groll, der mich vorzeitig ins Alter stürzt, als wäre ich begierig, an jene Grenze, die allein uns bekannt ist, zu gelangen. - Giorgio Manganelli, Diskurs über die Schwierigkeit, mit den Toten zu sprechen. In: G. M., An künftige Götter. Sechs Geschichten. Berlin 1983 (zuerst 1972)

 

Schraube

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme