chneedecke
Ich brachte Mutter zu Bett, verließ ihr Schlafzimmer, und nachdem
ich mich unter meiner Decke ausgestreckt hatte, kam mir der Gedanke, daß Mutter
vielleicht nicht nur in dieser Nacht überzeugt war, daß es draußen schneite.
Möglicherweise hatte sie auch gestern und vorgestern das feine, leise Geräusch
des vom Himmel fallenden Schnees vernommen, und vielleicht würde sie auch morgen
und übermorgen solche Nächte erleben. Wie einsam sie war! Nun empfand sie das
›Leid, von geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen‹ nicht mehr, und sie
brauchte sich auch wegen des Todes anderer und der dann fälligen Kondolenzgaben
nicht mehr zu sorgen. Die blaue, flackernde Flamme des Instinkts, die sie eine
Zeitlang nachts umhertreiben ließ, war endgültig erloschen. Sie lebte zwar in
einer Nacht, in der es immerzu schneite, aber Geist und Körper waren bei ihr
schon zu sehr in Verfall begriffen, als daß sie sich noch ein Drama schaffen
und darin eine Rolle spielen konnte. Vielleicht war sie in ihre Kindheit zurückgekehrt,
wo sie zu einem hochmütigen, selbstbewußten Mädchen erzogen worden war, aber
die Beleuchtung auf der Bühne war nun erloschen, die glitzernden Ausstattungsstücke
hatte die Dunkelheit aufgeschluckt. Sie hatte zunächst ihren Mann, den Gefährten
eines langen Lebens, und dann ihre zwei Söhne und die beiden Töchter verloren.
Auch ihre jüngeren Geschwister und all die anderen Verwandten, ebenso die mit
ihr vertrauten Freunde waren nicht mehr da. Sie waren nicht eigentlich verschwunden,
sondern Mutter hatte sie von sich aus weggestoßen. Jetzt lebte sie allein in
dem Hause, wo sie einst ihre Kindheit verbracht hatte. Nacht für Nacht fiel
um sie Schnee. Sie starrte auf die Schneedecke, deren Bild sich in der von ihr
vergessenen, allzu weit zurückliegenden Jugendzeit in ihr Herz
eingegraben hatte. - Yasushi
Inoue, Schneedecke. Nach: Friedrich
Dürrenmatt, Einführung Yasushi Inoue. In: F. D., Versuche. Zürich
1991
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