Schmerzensmutter  Alles an ihr hat den Anschein des Mutes, wo doch dieser äußere Schein nur zum einen aus «Widerspruchsgeist», zum anderen aus «schamlosen Reden» besteht. Madame Houïdnier hat die Manie, jedem und zu jeder Gelegenheit «ihre Meinung zu sagen»: «Sie sind ein Gehörnter, mein armer Jules! Wenn Sie es noch nicht wissen, ich sage es Ihnen!... Ich bedauere Sie, denn Sie verdienen es wirklich nicht, aber Sie sind es!» Oder: «Sie spielen so stümperhaft Karten, meine arme Marie! Gehen Sie doch Strümpfe stopfen, damit sind Sie weiß Gott besser bedient!» Eine Stunde später, da sich die «arme Marie» (in diesem Fall die Marquise von X ...) die wegen der Demütigung tränenvollen Augen wischte, küßte sie sie, nahm sie in die Arme und schenkte ihr ein Armband, das sie gerade am Handgelenk trug.

Madame Houïdnier ist so gütig, daß sie ihre Zeit damit verbringt, auf alles zu verzichten, was sie begehrt (und Gott weiß, was diese starke und schöne Person nicht alles begehrt), um Geld für ihre Armen zu behalten oder um den Freunden, die sie protegiert, entgegenzukommen. Bei einem großzügigen Temperament und einer freigebigen Hand ist sie öfter eher in Verlegenheit oder noch Schlimmeres als reich. Sie kann die Wohlhabenheit nicht genießen. Eines Tages verschwindet der unsichtbare Monsieur Houi'dnier ganz von der Bildfläche. Man hätte auf dem Schloß alles verkauft, wäre da nicht die Ankunft eines alten Freundes oder Liebhabers wie aus Vorsehung dazwischengekommen, der den äußeren Schein rettete. Er starb. Die heute sehr betagte Madame Houi'dnier lebt in einer religiösen, mildtätigen Pension, die von einer ihrer alten Freundinnen bezahlt wird: sie gilt als unerträglich und schwierig. Sie ist hier verängstigt, beunruhigt, eher mystisch als fromm. «Lassen Sie sie», sagt die Oberin, «das ist eine Verrückte!» In ihrem Testament ist festgesetzt, daß sie in ihrem «Bischofskleid» (sie) und ihrem Amethystschmuck bestattet wird und daß man nicht ihre Kinder benachrichtigen darf, die sie so geliebt hat und die sie ihrerseits so enttäuscht haben, die Elenden! der Gedanke, sich für diese undankbaren Geschöpfe aufgeopfert zu haben, etc.

Diese letzten Worte werden die feine Gesellschaft nachhaltig erstaunen, die immer verkannt hat, das diese «gutmütige Irre» eine Schmerzensmutter war. Das ist jedoch nichts weniger als die Wahrheit.   - (jac)

Mutter

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