Fchmerzensmusik   Auf dem Weg zurück nimmt mich die Aussicht auf die gegenüberliegende Seite gefangen, eine Landschaft, die uns durch den Morgendunst bei unserer Ankunft verborgen geblieben war. Ich bin gefangen, und dennoch drehe ich mich um mich selbst und stelle fest, daß es überall ähnlich ist. Ich erhebe mich über den Rastplatz, geflügelter als eine Chagallfigur; ich bin dieser Berg dort in der Ferne, ich trinke das Blau dieser Bäume, die kaum als genau umrissene Größen zu unterscheiden sind, ich gleite an dem Steinbruch dort drüben entlang, und immer noch auf dem Rastplatz und immer noch reglos, setzt sich der Reigen fort bis zum Schwindelgefühl, diesem Schwindelgefühl, wie es in einigen seltenen Augenblicken des Lebens die Rundumsicht von 360 Grad bewirkt, die sich zugleich schafft und zerstört.

Eine kurze musikalische Phrase setzt sich in dem Strudel langsam durch, ähnlich wie die Nachtigall, wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit ihre Tonleitern übt, bevor sie aus vollem Herzen zu singen anhebt. Zwei, drei Noten, deren Tiefe aus der Großartigkeit der Landschaft zu entspringen scheint. Ein Takt, noch einer, und es ist dieses Quartett von Schubert, das keinem ändern gleicht, und ich vergesse, was ich holen wollte, steige aber in Fafnir ein, weil ich weiß, daß wir genau dieses Quartett auf einer Kassette haben, auf die ich mich in Augenblicken, die ich nicht genau bestimmen und nicht einmal zueinander in Beziehung setzen könnte, oft mit einer Art unabwendbarer Vehe-menz stürze, und so sitze ich schneller, als ich es sagen kann, auf der Rückbank und bin wie ein außerirdisches Wesen durch das Kopfhörerkabel mit dem Kassettenrecorder verbunden. Es beginnen die ersten Takte, schmerzvoll und tief, so wie einmal die Welt begonnen haben muß, eine Schmerzensmusik, wie die Landschaft, die mich umgibt, von der ich ein Teil bin, Violine und Cello; die tiefen Töne werden unterbrochen, es ist, als wären sie eine Wunde, die von den unerwarteten Höhen geheilt wird, und dann die langsame, so langsame und wunderbare Verschmelzung des Ganzen, die Harmonie, die sich selbst sucht und die umgebenden Berge und sogar die allmählich eintreffenden Touristen umfängt. Mitten auf dem Rastplatz, bei geöffneten Türen, in die Stille eingeschlossen; in einer äußeren Stille entsteht die Welt, und ich sehe sie, ich sehe sie alle, nicht nur den Wolf, der dort drüben unter den Bäumen ununterbrochen auf der Maschine schreibt, sondern auch das Paar, das direkt neben Fafnir aus einem 4L gestiegen ist und mit einem forschenden Lächeln auf den Lippen den Kassettenrecorder anschaut, die Kopfhörer, mein Gesicht und meine Hände, die das Ganze erneut dirigieren, ja, so wie sie irgendwo die Herausbildung der Landschaft dirigierten, die des Dunstes, der jetzt immer rascher überall aufsteigt. Ich sehe sie, ja. Aber nicht von diesem Körper aus, nicht mit diesen Augen, die ihnen vielleicht zugelächelt haben. Nein, ich sehe sie von dem Ort aus, wo ich zuhöre und den man nicht benennen kann, aus dem Herzen der Saiteninstrumente, aus dem Gehirn eines Musikers, der schon vor so langer Zeit gestorben und dennoch da ist, der weit über die Berge hinwegschwebt, ohne daß ihn Mauern und Fenster, Stadt oder Haus umgeben, ich rühre an das Herz, Ursprung und Entfaltung der Musik wie auch des Sehens: in jedem Finger eines Musikers, der wie ein Liebender den Bogen führt, in jedem Fuß, der das empfindliche Gleichgewicht des Instrumentes aufrechterhält, in jedem Kinn, das auf seiner Stütze ruht, ohne einen Abdruck zu hinterlassen: jede Note, all diese Dinge, die nicht existieren und die dennoch in Augenblicken wie diesem die ganze Schöpfung und der Zweck der Welt sind, ich sitze da, so groß wie all diese Berge um mich herum, eins mit den tiefsten Steinbrüchen, verbunden mit allen Bewegungen, die aus diesem Ganzen, der Dauer der Kassette, eine Einheit machen, und weder die Deutschen, die an das Auto kommen, um herauszufinden, ob ich vielleicht etwas aufnehme, noch die Familie, die erstaunt stehenbleibt, um mich mit ungläubigen Augen anzustarren, können diesen vollkommenen Kreis durchbrechen. Allein dieser kleine Junge, der sich mit dem Rücken zu mir auf das Trittbrett gesetzt und begonnen hat, sich ganz allmählich im Rhythmus des Quartetts zu wiegen, hat ihn vielleicht bewußt betreten, als einer, der die Erfahrung wirklich mit mir teilt, auch wenn alle anderen ebenfalls dazugehören.   - Julio Cortázar, Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Frankfurt am Main 2014 (BS 2481, zuerst 1983)

 

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