Schmerzensgeruch   Durch die stumm gewordene Hülle der mondbeschienenen Erdatmosphäre wirkten allerlei unter- und übermenschliche Einflüsse auf das Dach von Mat Dekkers Haus ein. Kalt, still und stumm erhob sich der Turmbogen der verfallenen Abtei im Mondlicht. Aus den kannelierten Säulen, den lamellaren Kapitellen, den abbröckelnden Steinsockeln im stummen Gras wallten unzerstörbare Emanationen der schwärmerischen liturgischen Verse aus der alten Weise - »Rette uns vor dem Ewigen Tod! Rette uns vor dem Ewigen Tod!« -, welche die gemeißelten Steine schon gekannt hatten, über die weichen Rasenflächen und über die Baumwipfel und wurden dann, im Mondlicht davontreibend, wie von einem natürlichen, aus lebendigen Seelen zusammengesetzten Magneten zu jenem heißen, lauten, dampfigen und kerzcnerleuchtetcn Zimmer hinabgezogen. »Rette uns vor dem Ewigen Tod! Rette uns vor dem Ewigen Tod!« Über ihnen allen wurde aus den Myriaden toter mittelalterlicher Kehlen schwach dieser Gesang geseufzt, der durch die hohen Bäume von King Edgar's Lawn schwebte! Und vermischt mit diesem feinen Seufzern, dessen fernstes Echo wahrscheinlich kaum jemand unter diesen Zechern auffangen würde, kam ein breites Schattenbild herüber. Zwischen das Mondlicht und das Pfarrhausdach schob es sich, das Bild des westlichen Menschengottes, das Bild des Wesens, dessen Martertod am nächsten Tag gefeiert werden sollte. Es war, als wäre dieses Bild mit den entsetzlichen Augenhöhlen, in denen die Todesschreie aller Opfer menschlicher Grausamkeit, der Grausamkeit des Lebens und der Grausamkeit des Urgrunds mitschwangen, selbst geschaffen worden von dem nie zu vergebenden Leiden aller empfindsamen Nerven zwischen Zenit und Nadir des physischen Universums. Während es durch die mondhelle Nacht über die Baumwipfel trieb, brachte es einen furchtbaren Schmerzensgeruch mit; einen Geruch, der süß wie glimmende Zimtstäbe war, einen Geruch, der bitter wie brennende Lorbeerzweige war, einen Geruch wie von einem in das Weihwasser eines toten Meeres aus Pein getauchten Schwamm! Doch da niemand in jenem Zimmer den Schrei über dem Dach- »Rette uns vor dem Ewigen Tod!« -, niemand das treibende Bild bemerkte, roch auch niemand jenen unbeschreiblichen Geruch.  - (cowp)
 

Schmerz Geruch

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