Schlangenprozession    „Eine Boa um diese Zeit auf den Pariser Straßen! Was das wohl zu bedeuten hat?" dachte der Papst. Und er folgte dem Kriechtier, das sich den Boulevard hinunter schlängelte, wobei es sämtliche Bäume ausrupfte, die rechter Hand in Richtung nach unten die Straße säumten. Kaum waren sie ausgerissen, verwandelten sich die Bäume in Schlangen derselben Art wie die erste, nur viel kleiner, so daß der Riesenboa bald an die dreißig Schlangen hinterdreinkrochen, die aus Leibeskräften „La Madelon" pfiffen. In Höhe der Rue de Rennes schlug die Prozession eine ver­spätete Straßenbahn in die Rucht, die gerade ins Depot zurückfuhr. Beim Anblick dieser Schlangenriege sprang die Trambahn aus den Schienen und raste in höchstem Tempo den Boulevard Raspail hinab. Der entsetzte Wagenführer verlor die Gewalt über sein Fahrzeug, das den gesamten Häuserblock zwischen dem Boulevard Saint-Germain und der Seine niederwalzte, über den Fluß hinwegsprang, den Arc de Triomphe du Carrousel zermalmte, das Finanzministerium ruinierte und auf dem Dachstuhl des Staatsrats zum Stehen kam. Am nächsten Tag bemerkte man im Louvre, daß die Kronjuwelen verschwunden waren. Doch das ist eine andere Geschichte, von der wir hier nicht reden wollen.

Die Schlangengruppe, die von Minute zu Minute größer wurde, kroch weiter den Boulevard hinab und erreichte binnen kurzem das Cherche-Midi-Gefängnis. Ein großer Teil der dort einsitzenden Militärgefangenen wartete darauf natürlich nur, um zu rebellieren. Kaum waren die Schlangen am Gefä'ngnistor angelangt, da wurde schon der Wachtposten von der größten Schlange wie ein Karamelbonbon verschlungen. Ein gewaltiger Schrei drang aus dem Kerker: „Meine Holzschuhe! Was habt ihr mit meinen Holzschuhen gemacht, ihr Schufte?" Und die aus den Fenstern gestürzten Gefängniswärter wurden sogleich auf dieselbe Weise verschlungen, wie die Kormorane die Fische verschlingen, die sie gefangen haben.

Da brach ein nicht enden wollendes Freudengeheul, ein rasender Taumel los: „Hoch lebe die Freiheit! Hoch leben die Schlangen!" Sämtliche Gefangene - 17.000 an der Zahl - strömten aus dem Gefängnis und drängten sich, eskortiert von den Schlangen, die jetzt die Internationale pfiffen, zum Elysée-Palast, in dem irgendein Präsident der Republik schlummerte. Trotz des Widerstands der Türhüter und der Eisbären ergriffen die 17.000 Männer, begleitet von den 6.000 Schlangen, im Handumdrehen Besitz von dem Präsidentenpalast, aus dem sein gewöhnlicher Hausherr, nackt und den ganzen Körper mit einigen Millionen Nadeln bedeckt, vertrieben wurde. Er schrie so laut, daß in den angrenzenden Häusern Leute ans Fenster traten und ihm Möbel auf den Kopf warfen. Dadurch drangen die Nadeln noch tiefer in seinen Körper, und er schrie um so lauter. Eine Polizeistreife auf Fahrrädern nahm ihn fest. Das Schwurgericht wird ihn wegen Erregung Öffentlichen Ärgernisses und nächtlicher Ruhestörung verurteilen. Wenn er sagt: „Ich bin der Präsident eurer Republik", wird ihm niemand glauben, und man wird ihn nach Guyana schicken. Dort wird er ausbrechen und als Fraß eines Jaguars enden, den der Hunger und die Jäger aus dem fernen Bezirk seiner Heldentaten vertrieben haben.

Der Papst, der den Schlangen vom Boulevard du Montparnasse an gefolgt war, konnte sich nicht genug wundern, daß Kriechtiere so viel Intelligenz besaßen. Er wäre gern mit ihnen zum Elysée-Palast gezogen, aber er fürchtete, sie würden ihn für den Präsidenten der Republik halten und ihm das gleiche Schicksal bereiten.   - Benjamin Péret,  Es war einmal eine Bäckerin ... , in: B. P., Die Schande der Dichter. Prosa, Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (Edition Nautilus)

 

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