Schlangenbegegnung   Einst hatte der König zur Nachtzeit eine süße Speise gegessen, und infolgedessen überkam ihn, als er schlafen gegangen, zur Zeit der Mitternacht der Durst. Da holte er einen Krug, der unter seinem Bette stand, hervor, um Wasser zu trinken. Der Krug hatte offen dagestanden. Eine Schlange hatte während der Nacht in dem Zimmer Junge bekommen und hatte die Kleinen aufgefressen. Ein Schlänglein aber war entronnen, und als es entronnen war, war es in diesen Wasserkrug gekrochen. Indem nun der König das Wasser trank, schluckte er das Tierchen mit hinunter. Doch davon merkte er nicht das geringste. Als sich aber die Schlange in seinem Leibe befand, begann sie zu wachsen. Alle sagten, bei dem König habe sich ein Wasserbauch gebildet. Eine Menge Heilmittel wurden angewandt, aber keine Gesundung trat ein. Als der König die Schmerzen nicht mehr zu ertragen vermochte, sagte er: »Ich will an die Gangä gehen und an einer ihrer heiligen Badestätten dauernd Wohnung nehmen.« Sein Kanzler traf die nötigen Vorbereitungen; dann machten sie sich auf die Reise. Nachdem sie einen Tagesmarsch zurückgelegt hatten, schlugen sie in eines Dorfes Nähe am Ufer eines Flusses ihre Zelte auf. Es war in der Sommerszeit; den König überkam der Schlaf. Dabei Öffnete sich sein Mund und blieb offen stehen. Der Kanzler aber saß dem König zur Seite und hing seinen schweren Sorgen nach. Da steckte die Schlange ihr Gesicht aus des Königs Mund und begann, Luft zu schlucken*.

Nun wohnte in dem Boden, auf welchem das Zelt stand, gleichfalls eine Schlange, Diese roch die andere Schlange und kam aus ihrer Höhle hervor. Sie gewahrte die Schlange, welche sich in des Königs Munde befand. Kaum hatte die Erdschlange die andere gesehen, so sagte sie zu ihr: »Schäm dich, du Schlechte! Du bist dem König in den Leib gekrochen. Dieser König aber ist der Ernährer der Dreiwelt. "Weshalb bereitest du ihm solche Pein? Du bist kein echter Kschatrija!« Da sprach die Bauchschlange im Munde des Königs: »Ich wohne, wo und wie es mir beliebt. Und ich fürchte mich vor keinem!« Wiederum sagte die Erdschlange: »Hätte dieser König einen Kanzler in seinem Hause, so würde dieser dich durch wirksame Mittel schon heraustreiben.« »Wie könnte er mich denn hinaustreiben?« fragte die Bauchschlange. Die Erdschlange aber erwiderte: »Wenn er in ein Gemisch von gestoßenen Nußschalen und Abili recht viel Salz mengt und dem König diese Mischung drei Tage lang zu trinken gibt, so stellt sich bei diesem von selbst Erbrechen ein; du aber verfaulst und verfaulst und gehst in kleinen Stückchen tot ab.« Da rief die Bauchschlange zurück: »Dummer Kerl! Du solltest ganz ruhig sein! Du sitzt auf einer Pfanne voll Goldmünzen. Wenn nur ein Kanzler da wäre, so würde er dich durch wirksame Mittel schon heraustreiben!« Die Erdschlange sagte: »Wie könnte er mich denn heraustreiben?« Die Bauchschlange entgegnete: »Wenn er eine ganze Pfanne voll öl siedet und sie in deine Höhle gießt, so verbrennst du darinnen von selbst, und er kann sich die Pfanne herausholen.« In dieser Weise zankten sich die beiden Schlangen untereinander.
Der Kanzler aber hörte alles mit an.  

* Nach einem indischen Volksglauben nähren sich die Schlangen von Wind      

- Indische Märchen. Hg. und übersetzt von Johannes Hertel. München 1953 (Diederichs Märchen der Weltliteratur)
 

Schlange Begegnung


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