chlaflied

 Schlaflied

- Walter Benjamin (1934), nach: Berliner Zeitung vom 30. September 2006

Schlaflied (2)   Wir waren alle beisammen, ich ein wenig vom Feuer entfernt und strickte, und Joseph sass am Tisch und las in der Bibel (denn die Dienerschaft pflegte sich nach getaner Arbeit im Wohnzimmer aufzuhalten). Miss Cathy war krank gewesen und verhielt sich darum ruhig; sie hatte den Kopf an ihres Vaters Knie gelehnt, und Heathcliff lag, auf dem Boden ausgestreckt, den Kopf auf Cathys Knien. Ich erinnere mich, wie der Herr, bevor er einschlummerte, ihr schönes Haar streichelte - er hatte nicht oft das Vergnügen, sie artig zu sehen - und sagte: «Warum kannst du nicht immer ein gutes Mädchen sein, Cathy?» Sie erhob gegen ihn ihren Kopf und entgegnete lachend: «Warum können Sie nicht immer ein guter Mann sein, Vater?» Doch sobald sie ihn aufs neue verärgert sah, küsste sie seine Hand und sagte, sie wolle ihm ein Schlafliedchen singen. Sie begann damit ganz leise, bis die Finger ihres Vaters sich von den ihren lösten und sein Kopf auf die Brust niedersank. Ich sagte ihr nun, sie solle schweigen und sich nicht rühren, auf dass er nicht erwache. So blieben wir eine gute halbe Stunde mäuschenstill, und wir wären noch weiter so geblieben, wäre nicht Joseph, der sein Kapitel beendet hatte, jetzt aufgestanden, in der Absicht, seinen Herrn zu wecken, damit dieser sein Gebet spreche und zu Bett gehe. Er ging auf ihn zu, rief ihn beim Namen und berührte seine Schulter; doch der Meister rührte sich nicht. Da ergriff Joseph das Kerzenlicht und betrachtete ihn. Mir ahnte, dass sich etwas ereignet habe, als er das Licht niederstellte und, jedes von den Kindern bei einem Arm fassend, ihnen flüsternd zuredete, hinaufzugehen und keinen Lärm zu machen - ihr Gebet könnten sie heute abend allein verrichten -; er selbst habe noch etwas zu tun.

«Erst will ich Papa gute Nacht sagen», antwortete Cathy, und ehe wir sie davon abhalten konnten, hatte sie diesem den Arm um den Hals gelegt. Da wurde das arme Geschöpf des Verlustes, der es betroffen, gewahr. «Oh, er ist tot, Heathcliff! Er ist tot!» rief sie, und beide stiessen einen herzzerreissenden Schrei aus.

Auch ich fing laut und schmerzlich zu klagen an; doch Joseph fragte uns, was uns einfalle, eines Heiligen wegen, der nun im Himmel sei, so zu brüllen. - Emily Brontë, Sturmhöhe. Zürich 1973 (zuerst 1847)

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