Scheiße, schreiende   Der Mann, der sich unterhalb des Fresko im alten Kirchlein unter fürchterlichen Krämpfen wand, die ihm den Hals umdrehten und ihn fast über die Erde kriechen ließen, hieß Orlando. Er stammte nicht aus dieser Gegend: er war Süditaliener. Man weiß nicht, es ist nicht überliefert worden, wie er in dieses kleine Tal in der Umgebung von Passabiago und in die Kirche des heiligen Eusoundso gelangt war. Man weiß hur, daß er, nachdem er seine Heimat im Süden verlassen hatte, am Ende einer langen Reihe von Schicksalsschlägen durch bestimmte Freunde, die er in Turin bei seinen 'Lands-Icuten' kennengelernt hatte, in die Gegend von Monferrato gekommen war. Hier hatte er eine Stelle als Hilfsarbeiter in einer Keksfabrik gefunden: sofern man von Keksen sprechen kann.  Es handelte sich nämlich um die "Krumiri", eine Spezialität von Casale Monferrato, Gründungsjahr 1886, Gründer und Erfinder ein gewisser Rossi, "Rossi" und sonst nichts, auf den der derzeitige Eigentümer E. Portinaro folgte: der jedoch (bei der Verpackung: ob bei anderem, wer will das schon wissen?) keinerlei Neuerung eingeführt hat. Die "Krumiri" präsentierten sich nämlich immer noch mit dem Qualitäts-Etikett "Lief. S.M. des Königs von Italien und der Königlichen Prinzen von Aosta und Genua". Unser Orlando, von uns auf so unvermutete Weise erworben, war ein Mann um die Dreißig, also noch jung. Zu anderen Zeiten hätte man ihn für einen Trottel und vierschrötigen Rüpel gehalten, der ein finsteres, aber vertrauenerweckendes Gesicht hatte, mit einem Soldatenhaarschnitt, abstehenden Ohren und ein paar ganz schmalen, aber aufsehenerregenden blauen Augen, fast wie die eines Blinden. Jetzt aber war er eine fast abstoßende Fratze: bessere Nahrung und größere Selbstachtung | eine bessere Ansicht über sich selbst | (die nicht mit echter Würde verwechselt werden darf) gaben ihm ein Aussehen von künstlicher Gesundheit, die nichts mit seiner natürlichen zu tun hatte. Er konnte irgendwie auch Italo-Amerikaner sein. Außerdem war er ein perfektes Beispiel für eine ebenso gelungene wie entwürdigende Anpassungsfähgkeit.  Er hatte nicht mehr und nicht weniger als jeder bourgeoise Jugendliche von Turin, Sein Haar war eine Riesenmähne, das ihm bis auf die Schultern herabfiel, in seinem Blick hatte sich ein arroganter Ausdruck von Überlegenheit festgesetzt, allerdings auch nicht frei vom Wissen um die eigene Narretei (die absolut nötig ist, um akzeptiert zu werden). Und schließlich hielt er in seiner großen, dicken Hand, sogar noch in seiner augenblicklich wenig ästhetischen Lage, eine äußerst flotte Herrenhandtasche. Was seine Wehen angeht, so waren auch sie -- wie die des Ingenieurs <...>- ein Gemisch aus 'Angst' und 'Lust' in Gestalt eines Gegensatzes zwischen Zurückhaltungswunsch und Befreiungswunsch. Wie übrigens auch seine Selbstzerstörung, als schließlich <... > stattgefunden hatte, eine Befriedigung, die den armen Rüpel - der rassisch zwar niedriger stand, aber seinen bourgeoisen Altersgenossen vollkommen ebenbürtig war, und sei es auch nur als Maske - auf dieselbe Stufe mit dem Ingenieur Gianni xxx stellte. Und wie der Ingenieur, stieß auch er das Objekt seiner Parentalfreuden aus und ließ den Blick unsicher suchend umherschweifen. Dort gab es nur Brennesseln und fingerlange Dornen. Doch was machte das schon. Jedenfalls war er gerade dabei, sich die weit ausgestellte Hose hochzuziehen und mit einer handbreiten Schnalle zuzumachen, als auch er hinter sich ein verzweifeltes, durchdringendes Kindergeschrei horte.

Sowohl Orlando, also, xxx Orlando als auch der Ingenieur Gianni xxx erlebten eine gleichartige Situation und fanden sich unerwarteterweise mit etwas konfrontiert, das wir als göttliche Erscheinung des sich verzukünftigenden Gegenwärtigen bezeichnen könnten. Die Offenbarung. Das, was man nicht eingestehen will. Das, was man vor allen Dingen nicht eingestehen kann, doch gleichwohl eingestehen muß.

Die beiden drehten sich um, blickten hierhin und dorthin, suchten herum, sagten »Na!« (oder »He!«), zogen den Kopf zwischen die Schultern, begannen wieder zu suchen: bis sie sich schließlich doch eingestehen mußten, daß das genauer zu erforschende Phänomen gerade ihre Scheiße war. Denn es war genau ihre Scheiße, die da so schrie.   - Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Berlin 1994

 

Scheiße Schreien

 

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