cheeläugigkeit   Unser Zusammenleben blieb bestimmt von einem Ausdruck in den Augen meines Sohnes, der nun seit vielen Jahren daraus verschwunden ist und auch seinerzeit nur gelegentlich auftrat. Ich verstand jenen Blick als einen des Mißtrauens, eines schwerkranken. Der Argwohn des Kindes galt niemand im besonderen. Er war grundsätzlich, oder jedenfalls dabei, grundsätzlich zu werden. Ich kannte solch einen Blick von früher, von mir selber, auf meinem einzigen Photo, einem Gruppenbild, aus dem Internat, und er begegnet mir ebenso bei heutigen Kindern, mehr und mehr, auch kleineren. Ich sehe ihn täglich an einigen hier in der Nachbarschaft.

Für eines vor allem, es geht seit nicht gar so langem, und das Sprechen ist ihm noch neu, wirkt das Wort Argwohn zu schwach: es muß Verdacht heißen. Nicht nur von Zeit zu Zeit hält dieses Kind nach Verdächtigem Ausschau - es tut das unablässig. Blick um Blick, finster von unten herauf oder über die Schulter. Frei nach einem Spruch des kleinlichen Propheten von Porchefontaine denke ich dann: »Zwei Jahre alt - und schon am Ende«, und obwohl mir klar ist, die Verantwortung dafür liege bei den Eltern (oder sonstwem), kann ich nicht anders, als den Winzling selber zu verurteilen, so sehr empört mich sein immergleiches Scheelauge.

Mein Sohn schaute so zwar nur unvermittelt, zwischen zwei üblichen Kinderblicken. Und doch war ich auch da schon abgestoßen und bekam es mit der Wut, gerichtet gegen ihn, mich selber, gegen Unbekannt. Angesichts solch jäher Blickfinsternis war mir, es fehlte ganz wenig, und es bliebe fortgesetzt im Gesicht meines Kindes. Es drängte mich, den Ausdruck zu brechen, mit Gewalt. Gegen dieses Mißtrauen, unerträglich für einen andern, der es tagaus, tagein mitbekam, aus der Nähe, mußte etwas geschehen. Aber ich tat nichts. - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main 1994

Scheeläugigkeit (2) Es war lächerlich, wie er sich in seiner Ecke krampfhaft bemühte, nicht zu Maigret hinzublicken. Er wußte, daß der Kommissar ihn bereits gesehen hatte. Dürr und bleich, mit roten Lidern glich er einem jener Schuljungen, die sich in der Pause abseits halten und unter ihrer mürrischen Maske nur schlecht verbergen, wie gern sie mit den anderen spielen würden.

Das paßte genau zu Cavres Charakter. Er war intelligent. Er war sogar wahrscheinlich der intelligenteste Mann, dem Maigret bei der Polizei je begegnet war. Sie waren ungefähr gleich alt. Und Cavre hätte mit seinem Wissen, wenn er sich hartnäckig darum bemüht hätte, vielleicht schon vor Maigret Kommissar werden können.

Warum schien er schon als blutjunger Mensch auf seinen mageren Schultern die Last irgendeines Fluchs zu tragen? Warum blickte er die ganze Welt mit scheelen Augen an, als verdächtige er jeden, ihm gegenüber üble Absichten zu hegen?

»Cadavre hat mal wieder seine komische Tour«, hieß es früher oft am Quai des Orfèvres.

Ohne jeden Grund versank er plötzlich in mißtrauisches Schweigen. Acht Tage lang sprach er mit niemandem ein Wort. Bisweilen ertappte man ihn dabei, daß er höhnisch vor sich hinkicherte, wie jemand, der hinter die dunklen Absichten seiner Umgebung gekommen ist. - Georges Simenon, Maigret und sein Rivale. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 57, zuerst 1943)

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