chauder
Da wir unseren Spaziergang vor dem Abendessen noch etwas auszudehnen
wünschten, überdies neugierig waren und erfahren wollten, wohin der Pfad führte,
beschritten wir ihn, obwohl es zu dieser Tageszeit und auf einem solchen, ab
und zu von Büschen und Gestrüpp gesäumten Weg schon reichlich dunkel war. Nach
einigen Biegungen und einem kurzen Abstieg stand ich plötzlich vor einer riesigen
schwarzen Leinwand: vollständige Finsternis, als vollkommen undurchdringlicher
Block aufgetaucht. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um den Eingang zu einer
großen Grotte, die sich jedoch auf so plötzliche und dem Blick derart unzugängliche
Weise aufgetan hatte, daß er weit eher wie ein Portal wirkte, das schnurstracks
ins Nichts führte. Ich war erschrocken, aber nicht wie man vor einer Mauer,
einem Abgrund oder irgendeinem Hindernis erschrickt, das jählings auftaucht
und einen zur Umkehr zwingt, wenn man einen Zusammenstoß oder Absturz vermeiden
will. Mir war, als hätte ich wahrhaftig einige Meter vor der Schwelle gestanden,
die man überschreitet, wenn man - dem üblichen Ausdruck zufolge - »hinübergeht«.
Mich überlief ein Schauder, der nicht so heftig war wie jener, den eine unmittelbar
drohende reale Gefahr hervorrufen kann, ein Schauder, der nichtsdestoweniger
vielleicht mehr unter die Haut ging, denn seine Ursache zeigte sich gewissermaßen
im Reinzustand, bar jeder Atmosphäre der Gewalt und ohne daß ich, um in mir
die nackteste Todesangst zu zerstreuen, an die Möglichkeit einer bestimmten
Katastrophe dachte, welche das gesamte Wesen angespannt erwartet, ohne sich
die unausweichlichen Folgen eines solch brutalen Unfalls zu vergegenwärtigen.
Als ich am nächsten Tag den gleichen Ort im Tageslicht wiedersah,
stellte ich fest, daß der Pfad in Wirklichkeit nicht vor einer Grotte endete,
sondern vor einer Art Saal, offensichtlich von Menschenhand in die Felswand
gehauen, wo er sich auftat und den ersten einer langen Flucht von Sälen bildete,
von denen ich die weniger dunklen durchlief, leicht angeekelt von den großen
rötlichen Fledermäusen, die überall umherflatterten. - Michel Leiris, Die Spielregel 2. Krempel. München 1985 (zuerst
1955)
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