chachtel  Der unglückliche Mieter war dazu verurteilt, sein Zimmer nur unter dem Feuer der Forderungen der wilden Bestie verlassen zu können, die ihn mehrmals am Tag in Gegenwart aller Nachbarn beschimpfte und ihn oft sogar in unverschämter Manier mitten auf der Straße abkanzelte.

Meine Herren, diese Situation dauerte zehn Jahre. Denn Marchenoir war niemals imstande, mehr als Anzahlungen zu leisten und konnte sich niemals zur Flucht entschließen. Einer Summe von drei- oder vierhundert Francs wegen hat dieses Lumpenweib ihn vierzig Mietzeiten lang gemartert.

Bitte werden Sie nicht ungeduldig, ich komme jetzt zu meiner Anekdote. Was Sie gehört haben, war freilich notwendig, damit Sie die einzigartige Bedeutung des Fundes ermessen können, den er an jenem milden Sommermorgem machte, zu der lieblichen Stunde, da Winden und Hasenfüße ihre Kelche öffnen.

Bereits drei Jahre zuvor hatte das Mitleid der Okeaniden unseren Prometheus zu entfesseln vermocht. Ein erster literarischer Erfolg, unter unaussprechlichen Qualen erwartet, hatte ihn in Stand gesetzt, endlich das Band der Schmach zu durchschneiden, und er lebte seither recht ruhig in einem abgelegenen Viertel, unendlich weit entfernt von seinem schrecklichen Gefängnis.

Das Bild des weiblichen Geiers verblaßte, verschwand immer mehr im Nebel, wurde unkenntlich, teleskopisch. Unmöglich, selbst in der tiefsten Tiefe der Schlammgruben seiner Erinnerung das Negativ wiederzufinden.

An einem Julitag, noch im Morgengrauen, als der Sonnenaufgang sich erst ankündigte, ging Marchenoir seiner Gewohnheit entsprechend aus dem Haus, um auf den Wällen frische Luft zu schöpfen und dabei einige Seiten aus dem Saxo Grammaticus oder aus Perrottos Cornucopia zu lesen.

Als er etwa sechzig Schritte getan hatte und den Blick auf seine Füße senkte, da er um die Straßenecke zu biegen im Begriff war, sah er zwei Schritte von sich entfernt an diesem einsamen Ort, wo sich damals nur Obstgärten und unbebautes Gelände fanden, eine bürokratische Pappschachtel der allernotariellsten oder alleramtlichsten Form, deren Vorhandensein ihn in Erstaunen versetzte.

Er näherte sich ihr, bis er sie mit dem Fuß berühren konnte. Sein Erstaunen wuchs noch, als er die Schwere des Gegenstandes spürte, und wandelte sich alsbald in Entsetzen, als er einen dünnen Blutstrahl gewahrte.

Rasch entfernte er den Deckel, und zum Vorschein kam seine Zimmerwirtin ... Der abgeschnittene Kopf seiner ehemaligen Wirtin blickte ihn aus seinen toten Augen an, aus seinen toten, weißen Augen, die aussahen wie zwei große Silbermünzen.  - Léon Bloy, Unliebsame Geschichten. Stuttgart 1983. (Die Bibliothek von Babel, Bd. 4, Hg. J. L. Borges)

Schachtel (2)  Der Ritter und strich sich mit beiden Händen das zottige Haar zurück und wandte Alice ein sanftes Gesicht mit großen freundlichen Augen zu. Ihr schien es, als hätte sie ihr Lebtag noch keinen so sonderbaren Soldaten gesehen.

Er stak in einer Blechrüstung, die ihm aber nirgends recht passen wollte, und an einem Riemen über seiner Schulter hatte er eine absonderliche Spanschachtel befestigt, mit der Öffnung nach unten, so daß der Deckel hin- und herbaumelte. Alice betrachtete ihm mit großer Neugier.

»Ich sehe schon, dir imponiert meine kleine Schachtel«, sagte der Ritter freundlich. »Ich habe sie selbst erfunden - um darin meine Kleider und Butterbrote aufzuheben. Wie du siehst, habe ich sie verkehrt herum festgemacht, damit keine Feuchtigkeit hineinkommen kann.«

»Aber die Sachen können dafür herauskommen«, bemerkte Alice sanft. »Seht Ihr denn nicht, daß der Deckel aufgegangen ist ?«

»Das ist mir entgangen«, sagte der Ritter mit einem Anflug von Ärger. »Dann ist gewiß der ganze Inhalt herausgefallen. Und ohne Inhalt ist die Schachtel wertlos.«  - Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Frankfurt am Main 1974 (zuerst 1872)

Schachtel (3)   Es war eine kleine, sorgfältig mit Bindfaden verschnürte Schachtel, die Adresse in Blockbuchstaben, wie mit der linken Hand geschrieben. Ich ging hinter das Haus, schnitt es mit einer Gartenschere auf und entfernte vorsichtig das Umhüllungspapier. Die Schachtel war nun noch mit Drähten umwickelt, die in einem roten Siegel zusammenliefen. Als ich das Siegel aufbrach, verkrampfte sich meine Hand; ich griff noch einmal nach den beiden Drähten, und die Hand verkrampfte sich wieder. Jetzt erst merkte ich, daß ich von den Drähten kleine elektrische Schläge erhielt. Ich zog mir Gummihandschuhe an, die in einer Baumgabel lagen, und streifte die Drähte von der Schachtel. Als ich sie beiseitelegen wollte, fiel mir auf, daß sie mit dem Innern der Schachtel verbunden waren. Unwillkürlich hatte ich daran gezogen, und der Deckel fiel herunter, ohne daß aber sonst etwas geschah. Ich schaute in die Schachtel und sah nichts darin als eine kleine Batterie, in die die Drähte eingeführt waren. Ich wußte, Judith war geschickt genug, etwas weit Ernsteres herzustellen, und konnte doch nicht lachen. Den winzigen Schlag, den sie mir ausgeteilt hatte, hörte ich plötzlich, als ein hohes, ganz leises Winseln, nach dem ich mich beinahe umdrehte.  - Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 1972

Schachtel (4)  

DIE KLEINE SCHACHTEL

Der kleinen Schachte! wachsen die ersten Zähne
und es wächst ihre kleine Länge
ihre kleine Breite ihre kleine Leere
und überhaupt alles was sie hat

Und die kleine Schachtel wächst weiter
und nun ist der Schrank in ihr
in dem sie war

Und sie wächst weiter und weiter
und weiter und nun ist das Zimmer in ihr
und das Haus und die Stadt und die Erde
und die Welt in der sie einmal war

Die kleine Schachtel erinnert sich an ihre Kindheit
und vor übergroßer Sehnsucht
wird sie wieder eine kleine Schachtel

Nun ist in der kleinen Schachtel
die ganze Welt klein klitzeklein
leicht in die Tasche zu stecken
leicht zu stehlen leicht zu verlieren

Hütet die kleine Schachtel

Du wirst gefragt, was eines deiner Gedichte, was die kleine Schachtel bedeutet. Die Frage hat dich zum Träumen gebracht über dieses Gedicht, und die Träumerei hat dir mit einer Reihe von Fragen geantwortet:

Was ist die kleine Schachtel? Oder genauer: wer ist die kleine Schachtel? Ist sie ein kleiner Bastard, und zwar ein seltsamer Bastard, dessen menschlicher Vater zwar bekannt ist, aber nicht auch dessen Mutter (aus einem hölzernen, eisernen, kristallenen oder einem anderen edlen oder gemeinen Geschlecht)?

Ist das ein neues Ungeheuer, das diesmal nicht den Ehebruch des Menschen mit einem Tier darstellt (es ist keine Sirene, kein Kentaur), auch nicht den Ehebruch von Tieren verschiedener Gattung (es ist kein Drache, kein Einhorn)? Ist das ein neues Ungeheuer, das den Ehebruch des Menschen mit einem Gegenstand, mit einer Maschine darstellt (halb Mädchen, halb Maschine also) und das in Erscheinung trat, um die alten, verhungerten oder schon ausgestorbenen Ungeheuer auf den Industrie-Wiesen unserer häßlichen Träume zu ersetzten? (...)

Ist es ganz einfach ein menschlicher Kopf, jener allerdings ein wenig viereckige Kopf, der in letzter Zeit hauptsächlich Schachteln hervorbringt und der sich selbst in eine Schachtel verwandelt hat, in eine kleine Schachtel, die zweifelhafte Wunder ausheckt?

Oder ist es eine von den Öffnungen des Weltalls, die sich überall um uns her verbergen — in deinem, in jedermanns Schrank — und die ma! wächst, mal schrumpft wie ein Mund, der schwer atmet?

Oder ist es die Leere der Welt selbst, die weder mit der Welt noch mit sich selbst etwas anzufangen weiß und die, wenn sie etwas anfängt, nicht weiß, wie sie es zu Ende bringen wird?

Was ist die kleine Schachtel? Wer ist die kleine Schachtel? Ist sie wirklich altes, was deine Träumerei hier aufgezählt hat, oder ist sie nichls von all dem?

Du wirst gefragt, was dein Gedicht bedeutet. Warum fragt man nicht den Apfelbaum, was seine Frucht — der Apfel bedeutet? Wenn der Apfelbaum reden könnte, würde er antworten: Beißt hinein, und ihr werdet sehen, was er bedeutet!

Wie willst du eine Bedeutung aus deinem Gedicht ziehen? Wie willst du dein Gedicht auspressen, oder zerstoßen, oder auskochen, um diejenigen, die dich fragen, mit dem Gedichtsaft oder Gedichtpulver oder mit dem Gedicht in Tablettenform zu bewirten?

Du könntest — nur so, spaßeshalber — ein Gedicht über dein Gedicht schreiben. Ein jämmerliches Gedicht würde das! Das würde eo etwas, wie wenn ein Apfelbaum aus seinem Stamm, seinen Ästen und Blättern einen Apfel zusammenba-steln würde. Manch einer hätte Nutzen davon! (...)

Übrigens, was bedeutet der Apfel? Warum antwortet dir niemand? Dein Gedicht bedeutet ein Geheimnis, das irgendwo in dir entstanden und gereift ist, und als es reif war, hast du es mit den Silben deiner Sprache ausgesprochen.

- Vasko Popa, nach (frach)

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