ängerin  Der rosa Sessel aus grauem, emailliertem Holz steht auf einem Teppich, der mit seinen rosa Farbschattierungen noch ein wenig opulenter wirkt. Der hohe Wandschirm mit seinen falschen federgeschmückten Vögeln und seinen prächtigen rostroten Dahlien ist gerade so weit zur Seite gerückt, um das Portrait einer kleinen Pariserin sehen zu lassen, die, weißgekleidet und mit geschwungenem Strohhut, ihren Rock gerade so weit lüpft, wie die bewußte Koketterie, die jeder sichtbaren Fessel vorangeht, es erfordert, und einem Herrn zulächelt, der sich aus dem Fenster lehnt, soweit das Gitter das zuläßt.

Plötzlich ist der Stuhl in Rosa und Grau ausgelöscht, sind der Wandschirm und die Grisette vergessen, denn Madame Yvette Guilbert ist ins Zimmer gefegt gekommen und beugt sich vor, die beiden weißgewandeten Arme auf die Glasplatten des Tisches gestützt.

Sie ist eine große Frau mit kleingelocktem blondem Haar. Ihre Jahre haften ihr eigentlich auf eine freundliche Weise an, eher wie eine Dekoration und nicht wie eine Kalamität, eher wie eine Freundschaft zwischen ihr und dem Leben.

Ihr Lächeln ist flink und breit. Ich weiß noch, daß ich sie irgendwann einmal etwas mit ›Hagebutten und Hagedorn‹ als Refrain singen gehört habe, und jetzt, als ich sie zehn oder zwölf Jahre später anschaute, sah ich dieselben intelligenten Augen, dieselben beweglichen, aber schmalen Lippen und die große, leicht stupsige, schlaue, zynische Nase, und ich wußte, wo immer diese Sängerin sich gerade aufhielt, konnte man sich nur zu Hause fühlen. - (barn)

Sängerin (2)  Eine über und über bestickte Sängerin erscheint im Bildkasten, spreizt weit die Kiefer. Es ist Anneliese Rothenberger, glaube ich. Zu ihren Füßen keine dreckige Wäsche wie bei uns daheim. Rosa und sonst wirbelig wie in Wolken geht sie dahin und singt nicht mehr. Eine junge Zukunft rahmt sie in Gestalt von Jugend, mild wie Rahm, groß wie'der Bildschirm ein. Von ihrem rosigen Gaumen stößt ein Zäpfchen herab ein Schabmesser ihre Halskrause wippt eine Glockenblume könnte es nicht besser. Die Tutteln fallen ihr oben fast aus dem Gleid naus. Sie ist fast nackert und geniert sich nicht, die traut sich was. Schöne Musik macht sie ganz mit dem Mund! Vielleicht kennt sie einen Millionär vielleicht den Papst! Gespannt fällt den Zuschauern Ruß aus den Augen So fremd ist das Leben für sie. Die Füße von dieser berühmten Sängerin sind unsichtbar unter dem Kleid. Keulen. Ihr nun folgendes Lied wird von ihrem Mund allein angekündigt. Es klingt. Sie freu! Alle werden zu hellen Quellen vor lauter Ungewißheit, was sie noch alles singen wird. Vielleicht sind auch sie, wie sie da zuschauen, glänzende Begabungen und wissen es nicht. Sie verströmen sich öfter als einmal, um es ansehen zu dürfen. Stellen sich um lebendige Karten an, um die Sängerin lebendig in einer riesigen Halle betrachten zu können. Sie reisen sogar in ein fremdes Land, wenn nötig. In Schaumrollen umspannt das Haar dieses gleißende und zudem noch ausfahrbare Gesicht. Es schreit es schreitet nein es singt sehr hohe Töne! Das sind alles Höhepunkte, was Sie hier sehen. Es sind Lenze. Es ist größer als alles und reicht höher hinauf, es sind eindeutig Gipfel von Leistungen im Bereich Singen. Es gellt. Au! Die Lampen fiebern sogar. Das Plastikfleisch im Sängerinnenrachen: wird kraftvoll abgespänt, die Scharten spulen sich rosig ab. Diese Frau ist eine Hochfrequenz im Beruf Gesang. Solche Höhen, die hätten Sie auch gern drauf. Dieses kleine Messer es zerschnipselt ihr jetzt das ganze Innenfleisch ihres Mundes so verströmt sich das Echte. Man kann es nicht nachmachen. Von Atemschöpfen wird ein glänzender roter Mund kurz verhüllt. Es spreizt ihn sofort wider Willen auf, die Töne wollen nämlich partout hervordringen! Es heult so kein Föhn, diese Töne sind trotzdem rein Natur! Die Kehle ist entscheidend daran beteiligt der Kehlkopf dieser vollkommen natürliche Körperzipf. Es ist wunderbar viele wünschten dringendst solche Auftritte für sich und eventuell ihre Vogelbrut. Nur wenige sind von einem Intendanten so ausgewählt, daß sie an ihrem Fleisch den Höhenunterschied ertragen zwischen den zehn Zentimetern Absatz am Schuh eines TV-Stars und sich, die sie mit beiden Beinen fest in der Wiese des Publikumsgeschmacks verangert sind. So lautet das Ergebnis des Infratests. Wir sind die Zuschauer. Wir sind ungünstig. Ja, wir genießen nicht die Gunst der Abteilungsleiter für Fernsehspiele. Als ein brennender Span auf dem Schirm zu erscheinen muß Fleisch sich dem Fleiß beugen! Ja. Es kann sein, daß der Papst sie kennt. Gott kennt uns aber alle. Bei dieser Sängerin ist alles vollkommen trocken und erhärtet eine Meinung. Sie singt jetzt weiter. Es strengt sie sehr an. Nun brennen sogar ihre Augen lichterloh. Die Zähne fletschen sich wie von selbst, einer Lanzette gleich schießt der kochende Strahl ihrer glänzenden Schreie durch die Glaswand.   - Elfriede Jelinek, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr. Reinbek bei Hamburg 1993
 
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