Riesensprache  Träge und ein wenig verdrossen trat er auf uns zu. Lenora unterdrückte einen Schrei. Mein Freund war nun in derTat kaum wiederzuerkennen. Er schien sechs bis sieben Meter lang zu sein, auch sein Brustkorb hatte sich mächtig ausgeweitet, er wuchs ja gleichmäßig. Der Kittel war ihm zu klein geworden, und so hatte er seine Schenkel mit einigen aufs Geratewohl zusammengehefteten Dek-ken umhüllt und zwei andere Decken über die Schultern gehängt. An den Füßen trug er nichts mehr. Die Leinwandstreifen, mit denen sie umwickelt gewesen waren, hatten sich wohl gelockert, und er war nicht imstande, sie wieder festzumachen, da seine riesigen Finger nur noch Felsblöcke und Baumstämme greifen konnten. Ich kann den Eindruck, den diese gewaltige Erscheinung über dem Straßengraben auf mich machte, schwer wiedergeben. Als er seine Schultern hob, glaubte ich Neptun aus den Fluten steigen zu sehen. Der Schrecken verschlug mir die Rede. Doch es war kein eigentliche Schrecken mehr, sondern ein maßloses Staunen. Ich fühlte mich aus der Zeit gerissen und in eine mythologische Welt der Vorzeit versetzt, war darauf gefaßt, daß er den Dreizack Neptuns erhebe oder wie Jupiter Blitze schleudere. Was noch alles folgen mochte, hätte mich nicht mehr in Erstaunen versetzen können als seine Erscheinung selbst. Der Bart war ihm in diesen letzten Tagen so üppig gewachsen, daß er sein Gesicht völlig verändert hatte; man glaubte, eine Gotteserscheinung vor sich zu haben. An den Proportionen des Körpers gemessen, wirkte der Kopf normal, dennoch war er unheimlich anzusehen, sobald Cucoanes. zu lachen oder zu sprechen anfing und dabei sein dunkles Drachenmaul aufriß und seine Hauer entblößte. Übrigens fuhren wir beim ersten Laut, den er ausstieß, zusammen und wichen zurück, denn wir hatten den Eindruck, er bringe diesen Laut nicht auf natürliche Weise, sondern durch ein Achselzucken, ein Fingerknacken oder ein Räus-pern hervor. Ich kann nicht sagen, daß seine Laute einem der zahllosen glichen, die man im Herzen der Natur hört; sie klangen nicht wie ein Stöhnen, Ächzen, Knallen, Zischen, sondern gemahnten mich eher an die unmenschlichen Angstschreie, die man in Fieber-und Alpträumen ausstößt. Und das unwillkürliche Heraufkommen solcher Erinnerungen hatte etwas Bedrückendes und zugleich Faszinierendes, weil es mich zumindest für die Dauer dieser schrecklichen Augenblicke die Gegenwart vergessen ließ.

Wahrscheinlich war sich unser Freund über die Magie, die seine Laute auf uns ausübten, sehr wohl im klaren, denn er vermied es, soweit er konnte, das Wort an uns zu richten. Gleich zu Beginn allerdings, als wir ausstiegen und er Lenora erblickte, warf er die nackten Arme zum Himmel und überschüttete sie mit einer Flut von Jubel- und Schmerzensschreien, die uns das Blut in den Adern erstarren ließen.  - Mircea Eliade, Der Makranthropus. In: Phantastische Zeiten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1986 (Phantastische Bibliothek 185)

 

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