hythmus Jahrszeiten,
Tagszeiten, Leben, und Schicksale sind alle merckwürdig genug durchaus
rythmisch - metrisch - tactmäßig. In allen Handwercken und Künsten, allen
Maschinen - den organischen Körpern, unsren
täglichen Verrichtungen - überall - Rythmus - Metrum - Tacktschlag - Melodie.
Alles was wir mit einer gewissen Fertigkeit thun - machen wir unvermerckt
rythmisch - Rythmus findet sich überall - schleicht sich überall ein. Aller
Mechanism ist metrisch- rythmisch. Hier muß noch mehr drinn liegen - Sollt
es bloß Einfluß der Trägheit seyn? - Novalis, Teplitzer Fragmente
(1798)
Rhythmus (2) ist eine Art Kompromiß zwischen Kraft
und Widerstand, ein wechselseitiges Gegeneinanderprallen, Sichausweichen,
Sichfliehen und -finden, ein harmonisches Spiel von Energieentfaltung und
Hemmungsbetätigung, das Sichumkreisen und Sichumsprudeln zweier nie ganz
vereinbarer Gegensätze; der Rhythmus ist gleichsam eine Ehe zwischen Kraft
und Hemmung, die in Harmonie nur durch ein ständiges wechselndes Nachgeben
des einen und des andern zu erhalten ist. Der Rhythmus bekundet die immer
hin- und herschwankende Bilanz zwischen dem Ja und Nein des Lebens und
der Bewegung, er ist ein immer hin- und herpendelnder, wechselnder Wert
zwischen Plus und Minus, eine an- und abschwellende Diagonale im Parallelogramm
von Kraft und Widerstand. Und seine eigentliche Ursache? Die Aktivität
der Kraft auf der einen Seite und die Elastizität der Materie auf der andern.
Die Kraft, nach allen Seiten gleichmäßig aktiv, geht gegen den Stoff gleichsam
an, um ihn aus dem Wege zu schleudern, er weicht aus, verdichtet sich,
diese Verdichtung komprimiert sein innerstes Gefüge, wodurch wiederum der
Widerstand erhöht wird, den er der Kraft bietet, so daß diese nicht wie
eine Welle den Schlamm langsam durchrinnt, sondern wie eine Woge vom starren
Felsen schäumend zurückgeworfen wird. Aus diesem Anprall, dieser Verdichtung
der Materie und dem Wachsen ihres rückstoßgebenden Widerstandes setzt sich
der Rhythmus, dieser Tanz zwischen Aktion und Hemmung, zusammen. Das Herz
der Welt, die Kraft, treibt seinen Strom in alle Adern, die ihm die Widerstände
lassen, und alle Ströme rinnen, abprallend und abgeschleudert vom Widerstande
des Alls, zurück in ihre anfängliche, urewige Quelle. Das ist der Kreislauf
der Kraft, das ist der Puls der Welt, der Rhythmus! - Carl Ludwig
Schleich, Von der Seele (1922)
Rhythmus (3) Der wogende und sichere Rhythmus des Kamelrittes drängt sich dem Körper auf, das Blut paßt sich ihm an und mit dem Blut auch die Seele. Die Zeit befreit sich von der geometrischen Unterteilung, in die sie der westliche nüchterne Geist hineingepreßt und herabgewürdigt hat; hier, mit dem Wiegen des "Schiffes der Wüste", wird die Zeit von den mathematischen Grenzen befreit, sie wird zum flüssigen unteilbaren Stoff, zum leichten, berauschenden Schwindelgefühl, das Gedanken in Träume und Musik verwandelt.
Stundenlang diesem Rhythmus hingegeben, begriff ich, warum die Orientalen
den Koran lesen, indem sie sich nach vorn und hinten gleichmäßig bewegen, als
ritten sie auf einem Kamel; so versetzen sie ihre Seele
in die monotone, berauschende Bewegung, die sie in die große mystische Wüste
führt, in die Ekstase.
- Nikos Kazantzakis, nach (
zeit
)
Rhythmus (4) Jahrszeiten, Tagszeiten, Leben, und
Schicksale sind alle merckwürdig genug durchaus rythmisch - metrisch
- tactmäßig. In allen Handwercken und Künsten, allen Maschinen
- den organischen Körpern, unsren täglichen Verrichtungen - überall - Rythmus
- Metrum - Tacktschlag - Melodie. Alles was wir mit einer gewissen Fertigkeit
thun - machen wir unvermerckt rythmisch - Rythmus findet sich überall - schleicht
sich überall ein. Aller Mechanism ist metrisch - rythmisch. Hier muß
noch mehr drinn liegen - Sollt es bloß Einfluß der Trägheit
seyn? - Novalis,
Teplitzer Fragmente
Rhythmus (5) Die Milieus
sind offen für das Chaos, das sie zu zerrütten
oder zu durchsetzen droht. Aber der Rhythmus ist das Gegenmittel der Milieus
gegen das Chaos. Die Gemeinsamkeit von Chaos und Rhythmus ist der Zwischenraum,
der Raum zwischen zwei Milieus, Chaos-Rhythmus oder
Chaosmos: "Zwischen Tag und Nacht, zwischen dem Konstruierten und dem natürlich
Gewachsenen, zwischen den Mutationen des Anorganischen zum Organischen, der
Pflanze zum Tier, des Tieres zur menschlichen Gattung, ohne daß diese Folge
eine Progression wäre..." In diesem Zwischenraum wird das Chaos zum Rhythmus,
zwar nicht zwangsläufig, aber es hat eine gute Chance dazu. Chaos ist nicht
das Gegenteil von Rhythmus, es ist vielmehr das Milieu aller Milieus. Rhythmus
gibt es, sobald es einen transcodierten Übergang von einem Milieu zum nächsten
gibt, also die Kommunikation von Milieus, die Koordination von heterogenen Zeiträumen.
Dahinsiechen, Tod und Eindringen bekommen einen Rhythmus. Bekanntlich ist der
Rhythmus weder Maß noch Kadenz, er ist nicht einmal eine unregelmäßige Kadenz:
nichts hat weniger Rhythmus als ein Militärmarsch. Das Tam-tam ist nicht 1-2,
der Walzer ist nicht 1-2-3 und Musik ist nicht binär oder ternär, sondern hat,
wie in der türkischen Musik, eher 47 verschiedene Formen von tempo primo. Ein
regelmäßiges oder unregelmäßiges Maß setzt eine codierte Form voraus, deren
Maßeinheit wechseln kann, allerdings in einem nicht-kommunizierenden Milieu,
während der Rhythmus das Ungleiche oder das Inkommensurable ist, das ständig
transcodiert wird. Das Maß ist dogmatisch, aber der Rhythmus ist kritisch, er
verknüpft kritische Momente, oder er verknüpft sich mit dem Übergang von einem
Milieu in ein anderes. Er wirkt nicht in einem homogenen Zeitraum, sondern operiert
mit heterogenen Blöcken. Er ändert die Richtung. - Deleuze
/ Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992
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