Reisebekanntschaft  Ich ging nach Italien. In Pisa traf ich dann die, der ich sogleich mein Leben weihte. Sie folgte mir nach Rom, nach Neapel. Es war eine Reise, auf der die Liebe jeden Aufenhaltsort verschönte... Wir fuhren nach Genua zurück. Ich hatte vor, sie nach hier, nach Ungarn, mitzunehmen, als ich sie eines Morgens tot neben mir im Bette fand.«

Der Alte unterbrach für einen Augenblick seinen Bericht. Als er ihn wieder aufnahm, zitterte seine Stimme noch mehr als zuvor, und nur noch mit Mühe war er zu vernehmen: »Es... Es gelang mir, das Hinscheiden meiner Geliebten vor den Leuten des Hotels zu verheimlichen, aber es gelang mir nur, indem ich mich der Abgefeimtheit eines Mörders befleißigte. Wenn ich daran denke, schaudert es mich noch. Man verdächtigte mich keines Verbrechens, und man glaubte, daß meine Begleiterin schon am Morgen zu sehr früher Stunde abgereist sei. Ich erlasse Ihnen die Einzelheiten der Stunden, die ich in der Nähe des Leichnams, den ich in einem Koffer verstaut hatte, verbrachte. Kurz, ich war so geschickt, daß das Einbalsamieren vonstatten ging, ohne daß man etwas merkte. Das Kommen und Gehen, die Zahl der Gäste in einem großen Hotel gibt einem eine ziemliche Freiheit, eine Anonymität, die mir angesichts der Umstände sehr zustatten kamen. Dann kamen die Reise und die Schwierigkeiten an der Grenzkontrolle, die ich, Gott sei Dank, ohne Schwierigkeiten passieren konnte. Es ist eine wunderbare Geschichte, mein Herr! Als ich nach Hause zurückkam, war ich mager, bleich, völlig verändert.

Als ich durch Wien fuhr, hatte ich bei einem Antiquar einen Steinsarkophag gekauft, der aus irgendeiner berühmten Sammlung stammte. Bei mir zu Hause ließ man mich machen, was immer ich wollte, ohne sich um meine Pläne besonders zu bekümmern, und niemand war erstaunt über das Gewicht und die Menge des Gepäcks, das ich aus Italien zurückbrachte. Ich selbst gravierte die Inschrift ADORATA und ein Kreuz auf den Sarkophag, in den ich, mit Binden umschnürt, den Leichnam der Angebeteten hineinlegte.

Mit unerhörter Anstrengung transportierte ich eines Nachts meine Liebe zu einem benachbarten Feld; ich tat es so, daß nur ich in der Lage war, den Ort wiederzufinden. Jeden Abend kam ich allein zu diesem Platz, um zu beten.

Ein Jahr verging... Eines Tages mußte ich nach Budapest reisen... Doch wie groß war meine Verzweiflung, als ich nach zwei Jahren zurückkam und sehen mußte, daß eine Fabrik gerade an dem Platz errichtet worden war, wo ich den Schatz eingegraben hatte, den ich mehr als mein Leben liebte. Ich wurde fast wahnsinnig und dachte schon daran, mich zu töten, als mir eines Tages der Pfarrer, der zu Besuch gekommen war, erzählte, wie man - als das benachbarte Feld ausgehoben wurde, um die Grundmauern für die Fabrik zu legen - den Sarkophag einer christlichen Märtyrerin aus der römischen Epoche mit Namen Adorata gefunden habe. - Guillaume Apollinaire, Der gemordete Dichter. O.O., ca 1987 (zuerst 1916)

Reisebekanntschaft (2)  Plume war kaum in Berlin angekommen, er wollte gerade in den Terminus gehen, als eine Frau ihn ansprach und ihm den Vorschlag machte, die Nacht mit ihr zu verbringen.

„Gehen Sie nicht weg, ich flehe Sie an. Ich bin Mutter von neun Kindern."

Und sie rief ihre Freundinnen als Zeugen an, sie machte das ganze Viertel mobil, man umdrängte sie von allen Seiten, es entstand ein Auflauf, und ein Polizist näherte sich. Als er gehört hatte, was es gab, sagte er zu Plume: „Seien Sie doch nicht so hartherzig, eine Mutter von neun Kindern!" Dann stießen sie ihn vor sich her und schleppten ihn in ein schmutziges Hotel, das seit Jahren von den Wanzen aufgefressen wurde. Wenn es für eine reicht, reicht es auch für zwei. Sie waren ihrer fünf. Sie nahmen ihm sofort alles weg, was er in seinen Taschen hatte, und teilten es unter sich.

Sieh mal an, sagte Plume zu sich selbst, das nennt man bestohlen werden, es ist das erstemal, daß mir sowas zustößt. Dahin führt es also, wenn man auf die Polizisten hört.

Er hatte seine Jacke wieder angezogen und schickte sich an hinauszugehen. Aber sie entrüsteten sich heftig. „Wie denn! Wir sind doch keine Diebinnen! Aus Vorsicht haben wir uns zuerst auszahlen lassen, aber du wirst was für dein Geld bekommen, Kleiner." Und sie entkleideten sich. Die Mutter von neun Kindern war voller Pickel, zwei andere ebenso.

Plume dachte: Nicht gerade mein Typ, die Frauen da. Aber wie soll ich es ihnen zu verstehen geben, ohne sie zu kränken? Und er überlegte.

Dann sagte die Mutter von neun Kindern: „Schon recht, meine Lieben, der Kleine hier, ihr könnt mir's glauben oder nicht, aber ich wette, er ist auch einer von diesen Hasenfüßen, die Angst vor der Syphilis haben. Glückssache, die Syphilis."

Und sie nahmen ihn mit Gewalt, eine nach der andern.

Er versuchte aufzustehen, aber die Mutter von neun Kindern: „Nein, hab's doch nicht so eilig, Kleiner. Solange kein Blut gekommen ist, gibt es keine wirkliche Befriedigung."

Und sie fingen von neuem an.   - Henri Michaux, Plume und andere Gestalten. Wiesbaden 1981 (zuerst 1938)

 

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