Regression, kulturelle     »Es ist schon nicht sehr witzig, das Kind einer Selbstmörderin zu sein...«, sagte er noch. Sein Vater sank sichtlich getroffen in sich zusammen, ehe er äußerst heftig entgegnete: »Damit hat das überhaupt nichts zutun!«

Wenn beide Elternteile Selbstmord verübt hatten, fuhr Jed fort, ohne den Einwurf seines Vaters zu beachten, geriet man als deren Kind in die unangenehme, heikle Lage von jemandem, dessen Bande ans Leben einer gewissen Festigkeit entbehrten. Er sprach sehr lange und ziemlich gewandt, was ihn im Nachhinein etwas erstaunte, da er eigentlich nicht sonderlich lebenslustig war, im Allgemeinen wurde er eher als zurückhaltender, trauriger Mensch angesehen. Aber er hatte sofort begriffen, dass die einzige Möglichkeit, seinen Vater zu beeinflussen, darin bestand, an sein Pflichtbewusstsein zu appellieren -sein Vater war seit jeher ein pflichtbewusster Mensch gewesen, im Grunde hatten nur Arbeit und Pflicht in seinem Leben gezählt. »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst, ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen«, sagte Jed immer wieder mechanisch zu sich selbst, ohne den Satz wirklich zu begreifen. Ihn betörte vor allem dessen plastische Eleganz sowie das darin enthaltene Argument von allgemeiner Tragweite: die kulturelle Regression, die die generell verbreitete Zuflucht zur Sterbehilfe darstellte, die Heuchelei und der im Grunde eindeutig schlechte Charakter ihrer berühmtesten Verfechter, die moralische Überlegenheit der Palliativpflege usw.   - Michel Houellebecq, Karte und Gebiet. Köln 2011

Entwicklung, kulturelle Regression

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