Reglosigkeit  Ich bin dieser Belagerung müde. Ich möchte, daß dieses Telefongeklingel endlich aufhören wird. Ich möchte ein wenig Schweigen und Dunkel um mich haben. Jetzt schließe ich die Fensterläden, aber das Dunkel ist nicht vollkommen, es kommt noch ein wenig Licht durch. Zum Teufel, sage ich, diese Verstorbenen sind wirklich schrecklich. Ich sehne mich nach Schweigen und Dunkel. Wenn ich Dunkel und Schweigen habe, so werde ich mich reglos wie eine Mumie verhalten, wenn der Vergleich gestattet ist. Das Dunkel, das Schweigen, die Reglosigkeit. Ich möchte einen ruhigen (vollkommen ruhig) und dunklen (vollkommen dunkel) Ort finden. Aber niemand hilft mir. Einst hatte ich Freunde, Kunden und eine Menge von Leuten und Dingen um mich herum. Gut, ich werde den Ort, den ich suche, allein finden. Dort werde ich anhalten, in der Reglosigkeit liegt die Vollendung.  - Luigi Malerba, Die Schlange. München 1992 (zuerst 1966)

Reglosigkeit (2) Die Bäckerin nahm ihre linke Brust ab, legte sie neben sich auf den Rasen und setzte sich hin, das Gesicht in Erwartung irgendeiner Offenbarung dem Papst zugewandt. Sie wartete neun Jahre lang mit einer solchen Regungslosigkeit, daß ein Rutengänger eine Quelle aus ihrem Nacken hervorsprudeln ließ. Es war der 31. März 1924, in Notre-Dame hatte es gerade zwölf Uhr Mittag geschlagen, was ein ganzes Heer von Marienkäfern aufscheuchte, denen drei oder vier ausgehungerte Kondore nachjagten. Von der Seine her näherte sich ein blutüberströmter Mann und überquerte den Kirchplatz. Er hielt eine 25 bis 30 Meter lange Dachrinne in der Hand, die er an den Mund führte, und sagte:

„Die Bewohner des Holundermarks teilen mir eine traurige Nachricht mit: Ein 889jähriger Greis, der noch fünf Minuten zuvor eifrig und pünktlich das Amt eines Begräbnisordners versah, ist soeben zwischen den Seiten des Auftragsbuchs einer ehrgeizlosen Stadt gestorben. Der arme Mann, der die gesamte belgische Nation ins Leben rief und mehr als die Hälfte von ihr (2.781.836 Personen) zu Grabe trug, hatte kürzlich in dem von ihm gegründeten Land die Abschaffung der Taufbecken durchgesetzt. Bevor er starb, richtete sich der Greis, der auf das Floß der Medusa transportiert worden war, mit in die Luft gestreckten  Beinen auf und rief: 'Seht ihr denn nicht, daß diese Kerze den Katafalk ansengt!'"

Er hielt inne und lauschte seiner Stimme, die das Echo bis ans Ende der Welt trug, dann schleuderte er seine Dachrinne auf das Portal von Notre-Dame, das im Dunkel versank.  - Benjamin Péret, Die Schande der Dichter. Prosa, Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (edition nautilus)

Reglosigkeit (3)   Vor allem aber habt ihr die Reglosigkeit gepflegt. Nun ist diese gewiß kein notwendiges Attribut der Dinge, denn das Wasser fließt, der Wind weht, die Tür schwingt hin und her, der Sand rutscht, und der Ziegel zerbricht beim Aufprall; trotzdem steht fest, daß diese Reglosigkeit den Zustand der Dinge würdig wiederspiegelt, etwa des Steins, des Felses oder auch der Mauer, und es ist nicht unmöglich, daß vor allem diese, ich meine die Mauer, euch als das geeignete Modell eurer Dinghaftigkeit erscheint. Tatsächlich wurde hier ein Punkt, und zwar kein geringer, verschwiegen: daß ihr nämlich in Wirklichkeit ein paar Geräusche - sogar Stimmen - erzeugen konntet, freilich nur mit Hilfe einer zeitlichen Verschiebung: indem ihr euch der Erinnerung überließt. Während nun Steine und Felsen, soviel man weiß, gänzlich ohne Erinnerung sein können, kann man sich eine Mauer vorstellen, die - gebaut und zuvor geplant und zuvor gedacht und zuvor gewünscht « irgendwie in das Fortdauern der Erinnerungen verwickelt ist. Doch diese Lösung, wenn man es einmal so nennen will, verfehlte nicht, da und dort nachdenkliches Zögern zu erzeugen, denn es war nicht unmöglich, daß einige oder alle Geräuschsubjekte sich in ihre eigenen Erinnerungen zurückgezogen hatten, in denen vielleicht irgendein Gespräch stattfand oder wo ein solches Gespräch mit anderen Erinnerungen wenigstens nicht unmöglich war; und deshalb konnte eure Vorsicht nichts anderes tun, als bis zum Äußersten der Erinnerung zurückzustoßen, das vor Einbrüchen und Hinterhalten geschützt werden mußte, oder einfach vor den Verlockungen der in andere Erinnerungen eingeschlossenen Geräusche oder Stimmen. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 
 

Ruhe Bewegung

 

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Unbewegtheit