Rederitis    Am Tag zuvor hatte ein nahegelegenes Kino die Kühnheit gehabt, einen den Feministinnen unangenehmen Film zu zeigen, und im Verlauf einer Protestdemonstration hatten die Feministinnen auch die Fensterscheiben eines Lederwarengeschäfts, eines Reisebüros und des eleganten Cafés für müßiggehende Damen eingeworfen.

» ... Nein und abermals nein. Schau«, sagte Nicoletta, »ich will Feministin werden, wenn ich einer von ihnen begegne, die weniger neurotisch ist als ich, einer, die keine unglückliche Kindheit zu bewältigen hat, dazu sechsundzwanzig Komplexe, zwei gescheiterte Ehen, Kinder, denen sie nichts bedeutet, einer, die nicht an Schlaflosigkeit leidet und sechzig Zigaretten am Tag raucht, auch wenn ich an manchen Tagen auf achtzig komme, es wird mit mir immer schlimmer, ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber ich bekomme allmählich Ticks, stell dir vor, ich habe zum Beispiel angefangen zu zählen, ganz gleich, was: Gardinenringe, die Streifen deines Kleids, ganz reizend, wo hast du es her, und reden wir nicht vom Parken, wenn ich keinen Parkplatz finde, heule ich einfach los und bekomme hysterische Zustände, ich muß jetzt einfach alles zu Fuß oder mit dem Autobus erledigen, sag du mir doch mal, nein, sag's mir nicht, ich lasse dich nicht zu Wort kommen, ich spreche immerzu, ich weiß, ich weiß, ich habe auch die Rederitis, ich habe einfach alles, aber was ich sagen wollte, ich habe wenigstens nicht meine geistige Klarheit verloren, ich bin eine ehrliche Neurotikerin, ich habe nicht die letzte Scham verloren, ich gebe nicht alle Schuld den Männern, die sind auch arme Teufel, habe ich dir eigentlich gesagt, daß ich nach meiner Trennung von David in einem Jahr fünfzehn, nein, warte, sechzehn sogenannte Liebhaber gehabt habe, du kannst dir nicht vorstellen, das Gejammer, diese un-end-li-che Langeweile, diese Phrasen, mein Gott, die Phrasen, die Geständnisse, die Posen, du hast ja keine Vorstellung, aber man soll mir nur nicht kommen und sagen, deswegen müssen die Frauen endlich den Kopf hoch tragen, was für einen Kopf, frage ich, erst muß man einen Kopf haben, um ihn hoch tragen zu können, und im besten Fall konzediere ich dir die Parität, die Gleichheit, aber das habe ich schon immer gedacht, eine blöde Frau ist genauso unerträglich wie ein blöder Mann, da gibt es nicht den geringsten Unterschied, hübsch, deine Tasche, sie muß auch sehr praktisch sein, nein, ganz abgesehen davon, daß es einfach lächerlich ist, Fensterscheiben einzuwerfen, einen Höllenspektakel zu inszenieren, sich auf die Gleise zu legen und so weiter, und das alles bloß, damit auch Frauen Abteilungsleiter bei der Eisenbahn werden können, Bankdirektorinnen, leitende Angestellte der Fiat, stell dir den Stolz vor, die Gratifikationen, kurz und gut, was ich sagen wollte, als ob das das Problem wäre -« »Aber Augusta zum Beispiel behauptet -« hoffte für einen Augenblick Signora Guidi einschieben zu können.

»Augusta ist ein Dummerchen, und damit ist jede Bewegung, Partei und Revolution, bei der sie mitmacht, schon von vornherein disqualifiziert, ich will sagen, sie ist die klassische Fliege in der Suppe, nein, du bist anderer Meinung, du lachst, aber erinnere dich, wie Augusta vor zwanzig Jahren war, vor zehn Jahren, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber seit ich sie kenne, habe ich noch nie ein intelligentes Wort von ihr gehört, noch nie, du weißt, was niemals bedeutet, nie-mals! Nicht, daß Intelligenz glücklich macht, im Gegenteil, sieh mich an, die ich, man kann sagen, niemanden ertrage, und natürlich erträgt auch mich niemand, aber das heißt noch lange nicht, daß Dummheit glücklich macht.«    - Fruttero & Lucentini, Wie weit ist die Nacht. München 1989

Frauenleiden

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