Realitätsverlust  »Sarah«, sagte er. »Ich möchte, daß du mir hilfst. In wenigen Minuten wird etwas Seltsames mit mir geschehen. Es wird nicht lange dauern, aber ich möchte, daß du mich genau beobachtest. Dir ansiehst, ob ich - « Er gestikulierte. »Ob ich mich irgendwie verändere. Ob es aussieht, als würde ich einschlafen, oder ob ich Blödsinn rede oder -« Er wollte sagen: oder ob ich verschwinde. Aber er tat es nicht. »Ich werde dir nichts tun, aber es könnte nicht schaden, wenn du dich bewaffnen würdest. Hast du deine Waffe gegen Straßenräuber dabei?«

»In meiner Tasche.« Sie war jetzt völlig wach; sie saß aufrecht im Bett und starrte ihn voller Entsetzen an; ihre fleischigen Schultern im Licht des Zimmers waren gebräunt und sommersprossig.

Er holte ihre Waffe für sie.

Der Raum erstarrte zu völliger Unbeweglichkeit. Dann verblaßten langsam die Farben. Gegenstände lösten sich auf wie in Rauch, bis sie in Dunkelheit verschwanden. Schwärze legte sich auf alles, während die Gegenstände im Zimmer schwächer und schwächer wurden.

Die letzten Stimuli schwinden, begriff Poole. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Er konnte Sarah Benton erkennen, wie sie im Bett saß: eine zweidimensionale Gestalt, die dort lehnte wie eine Puppe und darauf wartete, zu verblassen und hinzuschwinden. Verirrte Böen dematerialisierter Substanz wirbelten in flüchtigen Wolken herum; die Elemente sammelten sich, brachen auseinander, sammelten sich erneut. Und dann verflogen als letztes Hitze, Energie und Licht; der Raum faltete sich und sank in sich zusammen, wie versiegelt gegen die Realität. Und an diesem Punkt trat absolute Schwärze an die Stelle alles anderen, Raum ohne Tiefe, keine nächtliche Schwärze, sondern eine, stocksteife, unerbittliche Schwärze. Und zudem hörte er nichts.

Um sich greifend, versuchte er etwas zu berühren. Aber er hatte nichts, um damit zu greifen. Das Gefühl für seinen Körper war mit allem anderen im Universum zusammen verlorengegangen. Er hatte keine Hände, und selbst wenn er sie hatte, gäbe es für sie nichts zu fühlen.

Ich habe trotzdem Recht damit, was das verdammte Band und seine Funktionsweise angeht, sagte er sich, einen nichtexistenten Mund gebrauchend, um eine unhörbare Botschaft auszusprechen.

Ist das in zehn Minuten vorbei? fragte er sich. Habe ich in dem Punkt auch recht? Er wartete ... aber er wußte intuitiv, daß sein Zeitgefühl mit allem anderen verschwunden war. Ich kann nur warten, begriff er. Und ich hoffe, es dauert nicht ewig.

Um sich selbst zu beruhigen, dachte er: Ich stell mir ein Lexikon zusammen; ich versuche alles aufzulisten, was mit »A« beginnt. Mal sehen. Er überlegte. Apfel, Auto, Acksetron, Atmosphäre, Atlantik, Tomaten in Aspik, Anzeigenwesen - er überlegte und überlegte, und die Begriffe jagten durch sein furchtgeplagtes Bewußtsein.

Ganz plötzlich flackerte Licht auf.

Er lag auf der Couch im Wohnzimmer; mildes Sonnenlicht sickerte durch das einzige Fenster. Zwei Männer beugten sich über ihn, in den Händen Werkzeug. Männer vom Wartungsdienst, überlegte er. Sie haben an mir gearbeitet.

»Er kommt zu Bewußtsein«, sagte einer der Mechaniker. Er richtete sich auf, trat zurück; an seiner Stelle erschien Sa-rah Benton, außer sich vor Sorge.

»Gott sei Dank!« sagte sie und atmete Poole dabei feucht ins Ohr. »Ich hatte solche Angst; am Ende habe ich Mr. Danceman angerufen, um -«

»Was ist passiert?« unterbrach Poole schroff. »Erzähl von Anfang an, und sprich um Gottes willen langsam. Ich will alles genau wissen.«

Sarah faßte sich, hielt inne, um sich die Nase zu reiben, und fing dann nervös an: »Du bist ohnmächtig geworden. Du hast dagelegen, als wärst du tot. Ich habe bis halb drei gewartet, und du hast dich nicht gerührt. Ich habe Mr. Dan-"ceman angerufen und ihn dummerweise aus dem Bett geschmissen, und er hat die Ameisenklempner - den Wartungsdienst für organische Roboter, meine ich - angerufen, und diese beiden Männer hier kamen gegen Viertel vor fünf und haben seitdem an dir gearbeitet. Es ist jetzt Viertel nach sechs morgens. Und mir ist furchtbar kalt, und ich will ins Bett; heute schaffe ich es nicht ins Büro, nein, wirklich nicht.« Sie wandte sich schniefend ab. Das Geräusch ärgerte ihn.

Einer der uniformierten Wartungsleute sagte: »Sie haben an Ihrem Realitätsband rumgespielt.«

»Ja«, sagte Poole. Warum leugnen? Offensichtlich hatten sie den eingefügten ungelochten Streifen gefunden. »Ich hätte nicht so lange weg sein dürfen«, sagte er. »Ich hatte nur einen Zehn-Minuten-Streifen eingefügt.«

»Er hat den Bandtransport unterbrochen«, erklärte der Mechaniker. »Der Lochstreifen ist nicht mehr weitergelaufen; Ihr Zwischenstück hat ihn blockiert, und er hat automatisch abgeschaltet, um zu vermeiden, daß das Band reißt. Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, daran herumzufummeln? Wissen Sie nicht, was Sie da anrichten können?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Poole.   - Philip K. Dick, Die elektrische Ameise. In: P. K. D., Der Fall Rautavaara. Zürich 2000

Realitätsverlust (2)
 

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