ealismus
Es war einmal einer, der hielt sich für einen realistischen Schriftsteller.
Daher schrieb er alles auf, was ihm passierte. Er hieß Vincenzo, aber im Roman
trat er unter dem Namen Ernesto auf. Alles, was er tat, tat er zum Zweck des
Schreibens. Zum Beispiel setzte er sich hin und sah zur Decke; dann schrieb
er auf sein Blatt: Ernesto setzt sich unvermittelt und sieht zur Decke.
Da er sonst nicht mehr viel zu sagen hatte, steckte er sich einen Finger
in die Nase. Das schrieb er aber nicht auf. Wenn überhaupt, dann schrieb
er es in einer künstlerischeren Form. Zum Beispiel: Ernesto ist nachdenklich
und läßt die Zeit verstreichen. Das bedeutete, daß er nasebohrend am Tisch
saß. Manchmal saß er eine Stunde so da. Das nannte er die Patt-Situation, in
der es keine herausragenden Tatsachen zu berichten gab. Er schrieb höchstens,
daß Ernesto nicht imstande war, seine Gedanken festzuhalten. In Wirklichkeit
säuberte er sich inzwischen entweder die Nase oder ein Ohr mit einem Finger.
Das war aber kein Ereignis für einen Roman, auch nicht für einen realistischen
wie den seinen. Derlei Dinge haben keinen Zutritt zur Literatur, wie zum Beispiel
auch, wenn man einen Fingernagel als Zahnstocher benutzt. Da erhob er sich und
schrieb: Unvermittelt erhebt sich Ernesto. Er schrieb unvermittelt, um
Eindruck zu schinden mit seinem Roman. Aber kaum hatte er sich erhoben, stand
der Roman schon wieder still. Er durfte sich nicht wieder hinsetzen, um sich
nicht zu wiederholen, so ging er aus dem Haus und schrieb. Ernesto sei aus dem
Haus gegangen. -
(cav)
Realismus
(2) Der Realist ist eine dürftige Seele. Er sieht
nur, was vor ihm steht, wie ein Pferd mit Scheuklappen. - Henry
Miller: Nachwort zu Blaise Cendrars, Wahre Geschichten. Zürich 1979
Realismus (3)
Realismus (4) Am 3. Oktober 1977 verbreitet die Deutsche Presseagentur eine längere Meldung über den Abzug der professionellen Beobachter am Loch Ness in Schottland, die den Sommer über auf das Erscheinen des umstrittenen Monsters im See mit umfangreichen instrumenteilen Ausrüstungen gewartet hatten. Es ist so etwas wie der offiziöse Schlußpunkt hinter die alljährliche Sauregurkenzeit der Presse.
Aber auch für den Beobachter unserer Probleme mit Realität und Realismus ergaben sich aus der Saison Gesichtspunkte, und zwar drei.
Der wichtigste ist die schlichte Feststellung des Nachrichtenbüros, in diesem Sommer 1977 hätten sich im Gegensatz zu den Vorjahren keine Anhaltspunkte für die Existenz des urzeitlichen Lebewesens ergeben. Niemand habe behauptet, es gesehen zu haben. Es gab keine Geräusche, keine Photos, keine Spuren, keine Zeugen. Man sollte denken, damit sei die lange Geschichte des Wartens auf das Tier im See ihrem Ende nähergekommen, einem Ende der Resignation wenn nicht der Negation. Erstaunlicherweise ist es umgekehrt. Der negative Befund des Jahres 1977 macht die Zeugnisse der Vorjahre wertvoller, befreit sie ein wenig vom Ruch der überspringenden Illusionsbereitschaft. Sogar die vermeintlichen Photographien gewinnen dadurch, daß es neue nicht gegeben hat. Die Unterwasseraufnahmen von 1975 hatten Realisten in aller Welt nicht überzeugen können. Aber wenn sie Fälschungen oder Fehldeutungen unklarer Objekte in der Botmäßigkeit der Wünsche waren — warum hatte es 1977 keine Erfüllung von Wünschen gegeben?
Dieser Sachverhalt ist für unser Wirklichkeitsverhältnis aufschlußreich: Die Verweigerung von Zugeständnissen an unsere Erwartungen und Wünsche hat mehr mit der Realität zu tun als deren Erfüllung, auch wenn die Erfüllungserfahrung geneigt macht, in ihrem Objekt alles und mehr zu sehen als das, was erwartet worden war. Die Wahrnehmung dessen, was es nicht gibt, überzeugt uns am Ende schon deshalb mehr von der Möglichkeit, das Nichtgegebene könne doch sein, weil es überhaupt so wenig selbstverständlich ist, Aufmerksamkeit an das zu wenden, was nicht existiert. Der Theoretiker macht oft seine wichtigsten Funde, indem er Lücken im Kontext der Erscheinungen bemerkt. Die nach einem auch noch verregneten Sommer enttäuscht von den Gestaden des schottischen Lochs abziehenden Beobachter sind eine glanzvolle Demonstration für die erfolgreichen der Vorjahre. Sonst hätte wohl auch die Presseagentur diesen Stoff nicht geliefert. Sie ist besser gerüstet für die Stallwachenzeit der nächsten Jahre.
Dann wird mitgeteilt, der Verfasser einer Broschüre über das schottische Phänomen, William Owen, habe da geschrieben, die Zweifler und sogenannten Realisten wurden erst an das Nationalunwesen glauben, wenn sie von ihm gebissen worden seien. Auch das ist ein Philosoph. Gegen alle Tradition von der Würde des Gesichtssinns hält er sich an die schlichtere Erfahrung, daß kein Anblick zu leisten vermag, was der Schmerz zuwege bringt. Welches Indiz für Realität, auch für unerkannte und unbekannte, wäre stichhaltiger?
Der Mensch ist nicht nur ein realistisches Wesen, er ist auch trostbedürftig. Man versteht, daß die mit einem Verkehrs Schild auf die Attraktion hingewiesenen Touristen, die erfolglos bei ihrem Besuch geblieben sind, des Trostes bedürfen. Sie können in
einem Ladengeschäft in Drumnadrochk eine Urkunde erstehen, auf der ihnen bescheinigt wird: Ich habe Nessiegesehen. Es mag sein, daß diese Trophäe bei der Heimkehr nicht so viele Gläubige findet, wie man das beim Kauf erwarten durfte. Interessanter ist der Versuch, sich vorzustellen, was Historiker in zwei Jahrtausenden aus dieser Urkunde herauslesen werden. Es wird ihnen nichts übrigbleiben, als zu beklagen, seither sei nun auch diese Tierart am Menschen ausgestorben.
Mißerfolge einer Theorie durch Ausbleiben dessen, was zu erwarten sie gebietet,
werden erst ergiebig durch eine Paratheorie, die unter denselben Voraussetzungen
erklären kann, weshalb es zum Mißerfolg kommen mußte. Einige gewitzte Freunde
der stillen Umwelt schottischer Bergseen haben den auf der nahen Autostraße
am Loch Ness erzeugten Verkehrslärm zur Ursache dafür gemacht, daß das scheue
Untier sich 1977 nicht gezeigt habe. Nun ist diese Straße eigens für den Strom
der Neugierigen zum Loch Ness ausgebaut worden. Das Monster hat sich die Folgen
seines früheren Erscheinens selbst zugezogen und richtig auf das Übermaß seines
Erfolgs reagiert, das rechte Maß von Enttäuschung zu erzeugen und dadurch den
Lärm wieder aufs zuträgliche zu reduzieren. Man wird also sagen dürfen, daß
mit dem Wiedererscheinen erst zu rechnen ist, wenn die Zahl möglicher Zeugen
sich so verringert hat, wie es sich für Wunder und Naturphänomene gehört. Dadurch,
daß es ein Motiv für das Nichterscheinen des Seetiers gibt, wird dieses nicht
nur subjektiv zu einem Indiz für seine Realität, sondern auch objektiv: Es gibt
eine Verhaltenstheorie für sein Bleiben im Tauchzustand. - (blum)
Realismus
(5)
Realismus
(6) Heute, wo alles vor unseren Augen
ausgebreitet wird, macht uns der Realismus in der Kunst verwirrt und
ratlos und zwingt uns, neuzuerfinden, um das zu erhalten, was frühere
Generationen ohne diese Anstrengung besaßen.
Cezanne -
Der einzige Realismus in der Kunst ist der Realismus der Imagination. Nur so vermeidet das Kunstwerk das Plagiat nach der Natur und wird zur Schöpfung
Die Erfindung neuer Formen, die dieser Wirklichkeit der
Kunst Gestalt geben - das einzige, was Kunst ist, ausmacht -, muß alle
ernsthaft interessierten Köpfe in Anspruch nehmen.
>Illusion«
gibt es in der Kunst nur dort, wo der Zuschauer in seiner Unwissenheit
die Imagination und ihr Werk mit gröberen Verfahren verwechselt. Vor
großen oder guten Werken der Kunst empfindet der Mensch durchaus, wie
seine Seele großer, weiter wird, doch das ist nicht, wie viele heute
meinen, »Lüge«, Täuschung, eine Art Hypnose oder irgend etwas, was das für den einzelnen schwere »Leben« mittels einer Vision von Schönheit zurechtzimmert. Es ist vielmehr ein Werk der Imagination. Es gibt das Gefühl von Vollendung,
indem es die Einheit der Erfahrung offenbart. Eher weckt es die
Intelligenz, als daß es sie betäubt, denn es führt vor, wie wichtig die
Persönlichkeit ist, indem es dem Einzelnen in seiner
Niedergeschlagenheit zeigt, daß sein Leben kostbar ist - wenn es nur
durch Imagination vervollkommnet wird. Und zwar nur dann. So ein Werk
erleuchtet —
Diese Erkenntnis zeigt, wie verfehlt der Versuch ist, die Natur zu »kopieren«. Genauso lächerlich wie der Versuch, von irgendwas ein Bild zu »machen« - William Carlos Williams, Frühling und
Alles. Nach
(wcw)
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