attengesicht
Auf einem Baumast sitzt ein Vogel, das Laub verbirgt seine
Identität, es kann ein Geier sein oder ein Pfau oder ein Geier mit Pfauenkopf,
Blick und Schnabel gegen eine Frau gerichtet, von der die rechte Bildhälfte
beherrscht wird, ihr Kopf teilt den Gebirgszug, das Gesicht ist sanft, sehr
jung, die Nase überlang, mit einer Schwellung
an der Wurzel, vielleicht von einem Faustschlag, der Blick auf den Boden gerichtet,
als ob er ein Bild nicht vergessen kann und oder ein andres nicht sehen will,
das Haar lang und strähnig, blond oder weißgrau, das harte Licht macht keinen
Unterschied, die Kleidung ein löchriger Fellmantel, geschnitten für breitere
Schultern, über einem fadenscheinig dünnen Hemd, wahrscheinlich aus Leinen,
aus dem an einer Stelle ausgefransten zu weiten rechten Ärmel hebt ein gebrechlicher
Unterarm eine Hand auf die Höhe des Herzens bzw. der linken Brust, eine Geste
der Abwehr oder aus der Sprache der Taubstummen, die Abwehr gilt einem bekannten
Schrecken, der Schlag Stoß Stich ist geschehn, der Schuß gefallen, die Wunde
blutet nicht mehr, die Wiederholung trifft ins Leere, wo die Furcht keinen Platz
hat, das Gesicht der Frau wird lesbar, wenn die zweite Annahme stimmt, ein Rattengesicht,
ein Engel der Nagetiere, die Kiefer mahlen Wortleichen und Sprachmüll, der linke
Mantelärmel hängt in Fetzen wie nach einem Unfall oder Überfall von etwas Reißendem,
Tier oder Maschine, merkwürdig, daß der Arm nicht verletzt worden ist, oder
sind die braunen Flecken auf dem Ärmel geronnenes Blut, gilt die Geste der langfingrigen
rechten Hand einem Schmerz in der linken Schulter, hängt der Arm so schlaff im
Ärmel, weil er gebrochen ist, oder durch eine Fleischwunde gelähmt, der Arm
ist am Handansatz vom Bildrand abgeschnitten, die Hand kann eine Klaue sein,
ein (vielleicht blutverkrusteter) Stumpf oder ein Haken, die Frau steht bis
über die Knie im Nichts, amputiert vom Bildrand, oder wächst sie aus dem Boden
wie der Mann aus dem Haus tritt und verschwindet darin wie der Mann im Haus.
- Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: H. M., Shakespeare
Factory 1. Berlin 1985
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