Rachefeldzug   Er hatte sich nicht ins Sauerland gemacht, um zu schenken, vielmehr galt es, den Vater zu richten, indem er die Tochter: Nur der liebe Gott schaute zu, diesmal gerahmt und verglast überm Bücherbord. So nimmt Gerechtigkeit weiterhin ihren Lauf. Kölns Bahnhofstoilette, der warme katholische Ort, erzählt von einem Unteroffizier Leblich, wohnhaft zu Bielefeld, wo die Makkowäsche blüht und der Kinderchor singt. Deshalb langer Anlauf auf Schienen, die Rückfahrkarte in der Tasche, drei Treppen hoch, zweite Tür rechts, hinein ins Milieu ohne anzuklopfen: aber Erwin Leblich hat einen unverschuldeten Arbeitsunfall gehabt und liegt mit hochgezurrtem Gipsbein und in Gips gewinkeltem Arm im Bett, ist aber dennoch nicht maulfaul: «Also mach mit mir was Du willst und laß Deinen Hund Gips fressen. Gut, ich hab Dich geschliffen und mit der Gasmaske pumpen lassen; aber zwei Jahre vorher hat mich ein andrer geschliffen und mit der Gasmaske pumpen lassen; dem ist es ähnlich ergangen: pumpen und singen mit Gasmaske. Also was willst Du eigentlich!»

Matern, nach seinen Wünschen befragt, blickt sich um und will Leb-Hchs Frau; aber Veronika Leblich starb schon im März vierundvierzig im Luftschutzkeller. Da verlangt Matern nach Leblichs Tochter; aber die Sechsjährige geht seit neulich zur Schule und wohnt seitdem bei der Großmutter in Lemgo. Nun will Matern seiner Rache um jeden Preis ein Denkmal setzen: er tötet Leblichs Kanarienvogel, der es verstanden hat, den Krieg unter Bombenteppichen und Tieffliegerangriflen glücklich zu überleben.
Weil Erwin Leblich ihn bittet, ihm ein Glas Wasser aus der Küche zu holen, verläßt er das Krankenzimmer, faßt in der Küche mit linker Hand ein Glas, füllt es unterm Wasserhahn auf und sucht auf dem Rückweg, kurz im Vorbeigehn, mit rechter Hand den Vogelbauer heim: außer dem tropfenden Wasserhahn schaut ihm nur der liebe Gott auf die Finger.

Der gleiche Zuschauer sieht Matern in Göttingen. Dort murkst er, ohne Hilfe des Hundes, des ledigen Postboten Wesseling Hühner ab - fünf Stück - weil Paul Wesseling, als er noch Feldgendarm war, ihn, Matern, bei einer Prügelei in Le Havre erwischt hat. Drei Tage verschärfter Arrest war die Folge; auch konnte Matern, den ein Offizierslehrgang für entschlossenes Handeln während des Frankreichfeldzuges belohnen sollte, dieser Arreststrafe wegen nicht Leutnant werden.
Die abgemurksten Hühner verkauft er tags drauf zwischen Kölns Dom und Kölns Hauptbahnhof für zweihundertachtzig Reichsmark ungerupft. Seine Reisekasse bedarf der Auffrischung; denn die Fahrt Köln-Stade bei Hamburg, erster Klasse mit Hund und zurück nach Köln kostet ein rundes Sümmchen.

Dort, hinterm Eibdeich, wohnt Wilhelm Dimke mit unansehnlicher Frau und taubem Vater. Dimke, der als Gerichtsassessor Beisitzer gewesen war, als beim Sondergericht Danzig-Neugarten über Wehrkraftzersetzung und Beleidigung des Führers verhandelt wurde - Matern drohte die Todesstrafe, bis das zuständige Kriegsgericht auf Anraten seines ehemaligen Hauptmanns den Fall übernahm - der Beisitzer Dimke also hat    aus Stargard, wo er zuletzt beim Sondergericht Beisitzer gewesen war, eine umfängliche Briefmarkensammlung von womöglich erheblichem Wert retten können. Auf dem Tisch, zwischen halbvollen Kaffeetassen, liegen die Bände, teils aufgeschlagen: die Dimkes katalogisieren gerade ihren Besitz. Milieustudien? Matern findet keine Zeit. Da Dimke sich an viele verhandelte Fälle, nur nicht an den Fall Matern erinnert, wirft Matern, um Dimkes Gedächtnis zu stützen, Sammelband um Sammelband in den bullernden Kanonenofen, zuletzt die bunten exotischen Kolonialmarken : der Ofen freut sich, Wärme verteilt sich im überbelegten Flüchtlingszimmer, sogar den Vorrat Klebefalze und die Pinzetten verlagert er endgültig; aber Wilhelm Dimke kann sich immer noch nicht erinnern. Seine unansehnliche Frau weint. Der taube Vater Dimkes spricht das Wort «Vandalimus» aus. Auf dem Schrank liegen schrumpelige Winteräpfel. Niemand bietet ihm an. Matern, der gekommen war zu richten, fühlt sich verkannt und verläßt mit nahezu unbeteiligtem Hund grußlos die Familie Dimke.
Oh, ewige fußbodengekachelte Männertoilette Köln, Hauptbahnhof! Sie hat Gedächtnis. Ihr geht kein Name verloren: denn wie zuvor in neunter und zwölfter Buhne der Name des Feldgendarmen und der Name des Beisitzers geschrieben standen, steht nun lesbar Name und Adresse des vormaligen Sonderrichters Alfred Lüxenich, exakt gestochen in die Emaille der zweiten Buhne von links: Aachen, Karolingerstraße hundertzwölf.

Dort gerät Matern in Musikerkreise. Amtsgerichtsrat Lüxenich ist der Meinung, Musik, die große Trösterin, könne über die schlimmen und verworrenen Zeiten hinweghelfen. So rät er Matern, der gekommen ist, den vormaligen Sonderrichter zu richten, sich erst einmal den zweiten Satz eines Schubert-Trios anzuhören: Lüxenich meistert die Violine; ein Herr Petersen ist nicht ungeschickt auf dem Piano; Fräulein Oetting handhabt das Cello; und Matern, mit unruhigem Hund, hört gefaßt zu, obgleich sein Herz, seine Milz, seine Nieren genug haben und auf ihre verinnerlichte Art zu husten beginnen. Danach bekommen Materns Hund und Materns drei empfindliche Organe den dritten Satz des gleichen Trios zu hören. Woraufhin der Amtsgerichtsrat Lüxenich mit sich und dem Cellostreichen des Fräulein Oelling nicht vollauf zufrieden ist: «Aber aber! Bitte den dritten Satz noch einmal; und sodann wird Ihnen unser Herr Petersen, übrigens Mathematiklehrer am hiesigen Karls-Gymnasium, die Kreutzersonate spielen; ich meinerseits möchte den Abend, bevor wir uns ein Gläschen Mosel zu Gemüte führen werden, mit einer Bachschen Violinsonate abschließen. Fürwahr, ein Stückchen für Kenner!»

Jede Musik fängt an. Matern verfällt mit unmusikalischem Oberkörper klassischem Takt. Jede Musik füttert Vergleiche. Er und das Cello zwischen den Knien des Fräulein Oelling. Jede Musik deckt Abgründe auf. Das zieht, zerrt und untermalt Stummfilme. Die Großen Meister. Unvergängliches Erbe. Leitmotive und Mordmotive. Gottes frommer Spielmann. Im Zweifelsfall Beethoven. Der Harmonielehre ausgeliefert. Wie gut, daß niemand singt; denn er sang silberte schäumte: Dona nobis. Stimme immer im Oberstübchen. Ein Kyrie, das Zahne zog. Butterweiches Agnus Dei. Schneidbrenner: Knabensopran. Denn in jedem Dicken verbirgt sich was Schlankes, das will raus und höher als Kreis-und Bandsäge singen. Die Juden singen nicht, er sang. Tränen kullern über die Briefwaage, schwerwiegend. Nur wahrhaft Unmusikalische vermögen bei ernster klassischer deutscher Musik zu weinen. Hitler weinte beim Tod seiner Mutter und anno achtzehn, als Deutschland zusammenbrach; und Matern, der gekommen ist, zu richten mit schwarzem Hund, weint, während der Studienrat Petersen des Genies Klaviersonate Ton für Ton anschlägt. Er vermag, während Amtsgerichtsrat Lüxe-nich die Bachsche Violinsonate aus heilgebliebenem Instrument Note für Note herausstreicht, den hochgehenden Strom nicht zu dämmen.    - Günter Grass, Hundejahre. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1963

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