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Die Pforten des kleinen Lycée Condorcet öffnen sich gegenüber
dem Haus 72bis der Rue d'Amsterdam, und die Schüler haben diesen
Hof zu ihrem Hauptquartier erwählt. Er ist ihr Spiel- und Richtplatz. Eine
Art mittelalterlicher Platz, ein Liebeshof, ein Bettelmarkt, eine Briefmarken-
und Schusserbörse, ein Fehmegericht, wo man die Schuldigen verurteilt und
das Urteil an ihnen vollstreckt, wo von langer Hand jene Streiche vorbereitet
werden, die während des Unterrichts ausbrechen und deren Zurüstungen die
Verwunderung der Lehrer erregen. Denn die Jugend der fünften Klasse ist
schrecklich. Nächstes Jahr kommen sie in die vierte Klasse, auf dem großen
Lycée der Rue Caumartin; dort wird man auf die Rue d'Amsterdam verächtlich
herabsehen, sich sehr wichtig vorkommen und den Ranzen oder die Schultasche
gegen den kleinen Packen von vier Büchern vertauschen, der durch einen
Riemen und ein Stück Teppich zusammengehalten wird. In der fünften Klasse
aber sind die erwachenden Kräfte noch den dunklen Instinkten der Kindheit
unterworfen: tierhaften, pflanzenhaften Instinkten, deren Regungen sich
der Beobachtung entziehen, weil das Gedächtnis sie ebensowenig bewahrt
wie die Erinnerung an gewisse Schmerzen und weil die Kinder verstummen,
sobald ein Erwachsener sich nähert. Sie verstummen, ihr Betragen paßt sich
einer veränderten Umwelt an. Diese großen Komödianten verstehen es, mit
einem Schlage lauter Stacheln aufzusträuben wie ein Tier oder sich mit
unscheinbarer Sanftheit zu wappnen wie eine Pflanze, und niemals verraten
sie etwas von den dunklen Bräuchen ihrer Religion. Kaum daß wir ahnen,
was sie von ihren Anhängern fordert: welche Listen, welche summarischen
Urteile, welche Schrecknisse, welche Martern, welche Menschenopfer. Die
Einzelheiten bleiben im Dunkeln, und die Gläubigen besitzen ihre Geheimsprache,
die jedes Verständnis vereiteln würde, wenn man ihnen zufällig einmal zuhörte,
ohne selber gesehen zu werden. Jeder Handel wird dort mit Achatmurmeln,
mit Briefmarken abgegolten. Die Opfergaben wandern in die prallen Taschen
der Heerführer und Halbgötter und das Geschrei übertönt ihre geheimen Beratungen.
- Jean Cocteau. Kinder der Nacht. Frankfurt am Main 1966 (BS 171, zuerst
1929)