Prüderie   Endlich am Vormittag des nächsten Tages kehrte sie zurück. Sie kam nicht allein, sie brachte einen Liebhaber von der Straße mit. In meiner Freude, sie wieder zu sehen, vergab ich ihr alles und übte sogar eine Zeitlang gegen ihren Liebsten Nachsicht. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Alles hat seine Grenzen. Sie setzten sich zuerst hin, um einander Blicke zuzuwerfen und sich die Beine zu reiben, plötzlich aber stürzte sich der Liebhaber in einer Weise über sie her, daß ich errötete. Was macht ihr da vor den Augen aller Leute! sagte ich und schalt sie aus. Nur nicht so groß tun, wenn man sich so benimmt!

Das nahm sie sehr übel auf; sie warf den Kopf spöttisch nach hinten und machte mir deutlich begreiflich, daß ich wohl nur eifersüchtig wäre. Ich eifersüchtig? pfiff ich. Eifersüchtig auf den da? Nein, weißt du was? Aber sie warf den Kopf noch mehr nach hinten und wiederholte ihre Behauptung. Da erhob ich mich und äußerte folgende Worte: Mit dir will ich mich nicht zanken, das widerstrebt meinem Rittergefühl; aber schicke deinen elenden Liebhaber zu mir, ihm werde ich zu begegnen wissen.

Und ich griff nach der Papierschere.

Nun begannen sie mich zu verhöhnen. Sie saßen auf der Tischdecke, lachten so, daß sie sich schüttelten, und schienen zu sagen: Haha, hast du keine größere Papierschere, eine etwas größere Papierschere? - Ich werde euch zeigen, daß es nicht auf die Waffe ankommt, erwiderte ich. Ich werde mit einem armseligen Lineal in der Hand auf den Kerl los gehen! Ich schwang das Lineal. Da lachten sie noch mehr und zeigten mir ihre Geringschätzung in der deutlichsten Weise. Was fangt ihr denn nun schon wieder an! sagte ich drohend. Aber sie nahmen keine Notiz von mir, der Augenblick schien ihnen nicht schicksalsschwanger, sie näherten sich einander mit unkeuschen Gebärden und waren gerade im Begriff, sich wieder zu umarmen. Das werdet ihr nicht tun! schrie ich ihnen zu. Aber sie taten es doch. Gerade vor meinen Augen. Da war meine Langmut zu Ende, ich erhob das Lineal und ließ es wie ein Blitz niederfallen. Es wurde etwas zerquetscht, es floß etwas, mein wohlgezielter Schlag hatte sie beide leblos zu Boden gestreckt.

So endete die Bekanntschaft ...

Es war nur eine kleine gewöhnliche Fliege mit grauen Flügeln. Und es war nichts Besonderes an ihr. Aber sie hat mir manche vergnügte Stunde verschafft, solange sie lebte.   - Knut Hamsun, Siesta. Novellen und Skizzen. Sämtliche Romane und Erzählungen Bd. 5. München 1977

Prüderie (2)

Prüderie (3)  Ein Kind, im Nachthemd, ist nicht zu bewegen, einen eintretenden Besuch zu begrüßen. Die Anwesenden, vom höheren sittlichen Standpunkt aus, reden ihm, um seine Prüderie zu bezwingen, vergeblich zu. Wenige Minuten später zeigt es sich, diesmal splitternackt, dem Besucher. Es hatte sich inzwischen gewaschen.   - (ben)  
 
 

Scheu  Verdrängungsarbeit

 

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