ost »Entschuldigen
Sie, mein Herr«, sagt mir eine höfliche, ein wenig weinerliche, vielleicht bekümmerte
Stimme; aber der Mann, der das Wort an mich richtet, hat ein altes, sehr altes
Gesicht, faltig und listig, ein boshaftes und ironisches Gesicht, mit dem er
eher einem Falschspieler gleicht, der die Karten gibt, als einem Techniker des
Schicksals. Dieser sehr alte Mann sitzt auf einem wackligen Bürostuhl hinter
einem derben Tisch, und auf dem Tisch liegen ordentlich sortiert Karten, Briefe
und Wurfsendungen - die Post. Ich betrachte den alten Mann: ich weiß wirklich
nicht, ob es statthaft ist, ihn nur einen Mann zu nennen und nichts weiter:
sein Gesicht ist wechselhaft, und ich begreife nicht, wie viele Hände er hat.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, wiederholt er mit einer Liebenswürdigkeit, die
etwas Schmieriges hat, »Sie haben vermutlich die Eiche nicht bemerkt«, und er
deutet auf eine Eiche hinter seinem Rücken, die zugleich etwas Archaisches und
Blendwerkhaftes, etwas niedrig Theatralisches, wenn nicht gar Ruchloses hat.
Ich sehe den sehr alten Herrn fragend an und versuche, seinen Blick in meinem
festzuhalten. »Diese Eiche«, fährt der Herr fort, »ist,
wie Sie bestimmt wissen, eine Eiche von ungewöhnlicher Ernsthaftigkeit, und
viele würden sie ohne Zögern als bedeutend bezeichnen.« Er spricht, als wenn
die Eiche zuhörte und er einen guten Eindruck zu machen wünschte. Das Rauschen
des großen Baumes könnte auch ein Scherz oder ein Ausdruck feierlicher Zufriedenheit
sein. »Wer an diesen Ort gelangt«, erklärt der sehr alte Herr weiter, »ist gewöhnlich
von Problemen, Fragen, Ratlosigkeiten, Hirngespinsten, Verzweiflungen und Hoffnungen
geplagt, sofern er nicht selbst ganz und gar ein Fragezeichen ist; ich nehme
deshalb an, daß ein vertrauliches Gespräch mit dieser Frau Eiche auch für Sie
nicht ohne Nutzen wäre.« Ich weiß, daß ich diesen Mann kenne; er muß irgendwo
Juwelenhändler, Experte für Perlen und Edelsteine gewesen sein; er hat getötet,
aber immer nur im Auftrag und ohne je Blut zu vergießen - in äußerst ehrbaren
kirchlichen Kreisen; obwohl er nichts vom Geschlechtlichen weiß, war er, und
ist vielleicht immer noch, ein achtbarer und geduldiger Zuhälter, ein Kuppler,
welcher Edlen und Schurken gleichermaßen zu Diensten steht. Er ist ein Fälscher,
ein Totenwäscher, ein Leichenfledderer des Schlachtfelds, ein gewissenhafter
Falschmünzer. »Mich brauchen Sie nicht anzusehen«, sagt er weiter, »ich bin
gar nichts; oder besser gesagt: ich bin der Postbote. Wie Sie sehen, lagert
hier Post von unterschiedlicher Größenordnung. Wenn Sie näher herankämen, würde
Ihnen auffallen, daß auf keinem dieser Umschläge eine Adresse steht. In Wahrheit
sind diese Briefe und Karten für diejenigen bestimmt, die an diesen Ort gelangen.
Der Absender ist nicht angegeben - aus naheliegenden Gründen der Diskretion
-, aber die Durchgangsstation ist äußerst ehrenwert. In der Tat wurden mir alle
diese Briefchen von der Eiche zugestellt. Wie Sie erkennen können, hat die Eiche
keine Blätter, sondern winzige Briefchen, die sich im Winde wiegen und reifen
und sich mit Schrift bedecken, bis sie sich loslösen und herunterfallen; dann
sammle ich sie ein und ordne sie in Häufchen. Meine Arbeit erfordert in der
Tat einen ausgeprägten Ordnungssinn, ein tiefes seelisches Gleichgewicht und
das Bewußtsein, mit einer weit mehr als ehrenvollen Aufgabe betraut zu sein.
Oh nein«, sagt er mit einer wegwerfenden Gebärde, wie um die Verneinung zu bekräftigen,
»ich bin kein Kommentator, ich biete keine Erklärungen, ich maße mir kein größeres
Wissen an als die anderen es haben, besonders diejenigen, die an diesen Ort
reisen. Ich beschränke mich darauf, die zur Reife gelangten Briefchen einzusammeln
- gewöhnlich einmal täglich des Morgens -, um sie zu ordnen und dann zu warten,
daß jemand kommt - wie Sie heute -, der eine große Verehrung für die Eiche und
ihre Billets doux hegt, denn natürlich ist in diesen Briefchen von Liebe die
Rede, aber diese Auskunft ist im Grunde selbstverständlich und gänzlich überflüssig.«
- Giorgio Manganelli, Amore. Berlin
1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)
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