olytheismus   Ich halte es für ein Zeichen menschlicher Schwäche, das Bild und die Gestalt Gottes zu erforschen. Wer auch Gott ist, wenn es noch einen gibt und wo er sich befindet, so ist er ganz Sinn, Gesicht, Gehör, Seele, Geist und ganz er selbst. Aber an unzählige Götter glauben und sogar nach den Tugenden und Lastern der Menschen an einen Gott der Schamhaftigkeit, Eintracht, Klugheit, Hoffnung, Ehre, Milde, Treue, oder (wie Demokrit sagt) an zwei, ein Wesen der Bestrafung und Belohnung, zeugt von einem noch größeren Unverstande. Die gebrechlichen und mühseligen Menschen haben, ihrer Schwachheit eingedenk, die Gottheit in Teile geteilt, damit ein jeder den Teil verehre, dessen er am meisten bedarf. Daher finden wir bei andern Völkern andere Namen von zahllosen Göttern; auch sind unterirdische Dinge, Krankheiten und viele böse Seuchen in Gattungen geteilt, weil wir sie in zagender Furcht besänftigt wissen möchten.

So hat man auf dem palatinischen Berge einen Tempel des Fiebers, einen Tempel der Laren, einen Altar für die Orbona und für das böse Geschick einen auf dem exquilinischen Hügel eingeweiht. Die Zahl der Götter muß größer als die der Menschen ausfallen, weil ein jeder für sich so viele Götter macht, indem er sich eine Juno oder einen Genius wählt. Gewisse Völker aber halten Tiere und sogar schmutzige, desgleichen viele Dinge, die ich mich zu nennen schäme, für Götter und schwören bei stinkenden Speisen und ähnlichen Sachen. Daß man aber glaubt, unter den Göttern fänden Ehen statt, aus welchen in langer Zeit keine Kinder geboren würden; ferner, einige von ihnen wären sehr alt und immer Greise, andere Jünglinge und Knaben, von schwarzer Farbe, geflügelt, lahm, aus einem Eie gekommen, abwechselnd einen Tag lebendig und tot, das grenzt an kindischen Wahnsinn. Allein alle Unverschämtheit übersteigt es, wenn man Ehebruch, Zank, Haß unter ihnen, ja sogar Gottheiten des Diebstahls und der Verbrechen annimmt. - (pli)

Polytheismus (2)  Demokritus, Orpheus und viele Pythagoräer, welche die Kräfte der Gestirne und die Eigenschaften der Dinge unserer Welt aufs Sorgfältigste untersuchten, haben die durchaus nicht ungereimte Behauptung aufgestellt, daß alles voll Götter sei. Keine Sache besitzt nämlich so vortreffliche Kräfte, daß sie, wenn ihr die göttliche Hilfe mangelte, durch sich selbst bestehen könnte. Götter aber hießen sie die den Dingen innewohnenden göttlichen Kräfte, welche Zoroaster göttliche Anlocker, Synesius symbolische Reize, andere Leben und noch andere Seelen nannten.  - (nett)

Polytheismus (3, indischer)   Alle diese Geschöpfe leben in Welten für sich unter eigenen Königen oder kommen nebeneinander in der Welt der Menschen vor. Der immer anthropomorph gedachte Götterkönig oder »König der 30 (32) Götter«, der Himmelsgott Indra, der seinen diamantenen Donnerkeil (wadschra) als furchtbare Waffe führt, ist in alter Zeit der Fürst des Himmels. In späterer Zeit treten bei den Brahmanen über ihn das personifizierte Abstraktum Brahman (Himmelsfeuer) als persönlicher Gott und Schöpfer, Wischnu als Erhalter, Schiwa als Vernichter und Herr des Zaubers, dem die Krieger und die Räuber, die Hexen und Zauberer huldigen. Bei den Dschaina werden die 24 Propheten oder Dschina (Arhat) vergöttlicht und in späterer Zeit als die »Obergötter« betrachtet, denen alle anderen untergeordnet sind1. Der König der Vögel ist der göttliche Adler Garuda, später als Wischnus Reittier gedacht, der König der Vierfüßler je nach den verschiedenen Gegenden Indiens der Löwe oder der Tiger, der König der Pflanzen in wedischer Zeit der Söma, das Kraut, aus welchem zu Opferzwecken der Unsterblichkeitstrank gebraut wurde. Das Gefäß, in dem dieser indische »Nektar« - in späterer Zeit Amrita, »Unsterblichkeit«, genannt - bei den Göttern aufbewahrt wird, ist der Mond, der oft mit ihm unmittelbar identifiziert und ebensooft zugleich persönlich gedacht wird. Denn die Inder haben die den alten Indogermanen überhaupt eignende merkwürdige Gabe, sich personifizierte Naturkräfte zugleich in ihrer elementaren und in ihrer vermenschlichten Gestalt vorzustellen, während es andererseits auch zahlreiche Stellen in der Literatur gibt, die von Verwandlungen aus der einen in die andere Gestalt sprechen.

Einige Beispiele für die höheren Wesen, welche nach indischem Glauben die Welten bevölkern, seien hier angeführt.

Himmel (Winatā in Gestalt eines weiblichen Adlers), Erde (Kadru in Gestalt einer weiblichen Schlange), Feuer (Agni), Sonne (Surja), Mond (Tschandra), Morgenrot (Aruna), Wolke (Pardschanja), Winde (Marut); Flüsse (Apsaras, zugleich Götterhetären am Hofe Indras), namentlich die Gangā, der Strom, der aus der Welt der Götter, in der man sie als Milchstraße sieht, auf Schiwas Haupt herabfällt und von da aus durch die Welt der Menschen in die Unterwelt strömt; das Meer; der Himalaja, dessen Tochter Durga, die mit blutigen Opfern verehrte Göttin, Schiwas Gemahlin ist; Bäume (der Rauhina im Sauparna), die Wunschbäume und Wunschlianen in Nandana, dem Park Indras, gelegentlich aber auch auf der Erde, welche alle an sie gerichteten Bitten erfüllen, wie unter den Steinen die Wunschedelsteine; Tiere: die Kuh, die überall in Indien als heiliges Wesen gilt und in der Wunschkuh Surabhi und den anderen alle Wünsche gewährenden Wunschkühen ihre edelste Gestalt erreicht; die acht Weltelefanten, welche die Haupt- und Nebenhimmelsgegenden bewachen: der Reiher Nādidschangha; der Rischi Tārkschja, ein Vogel; der Adler Garuda, der die Schlangen vertilgt, Frösche, Schlangen, sowohl die himmlischen als die aus der Unterwelt auf die Erde emporsteigenden. Alle diese dämonischen Tiere können Menschengestalt annehmen. Unter den Gestalten, in denen Wischnu die Welt erlöste, befinden sich die tierischen des Fischs, der Schildkröte, des Ebers und des Schimmels. In einer anderen Verkörperung tritt er als Mischgestalt halb Mensch, halb Löwe, auf, wie die die Gebirge bevölkernden Kimpuruscha oder Kinnara als Wesen gedacht werden, die Roßköpfe auf Menschenleibern tragen. Außer dem bereits genannten, zum obersten brahmanischen Gott erhöhten Abstraktum Brahman gibt es noch andere Abstrakta, welche als Götter und Göttinnen gedacht werden und jederzeit Menschengestalt annehmen können: z. B. Watsch, die Rede, die als Hymnus - Gebet oder Zauber - die Götter zum Geben zwingt, als Fluch, namentlich aus dem Munde eines Brahmanen, zu unfehlbarem Verderben führt. Die Segens- und Fluchformeln sind dem Inder noch heute nicht zu bloßen Höflichkeitsphrasen oder Interjektionen des Ärgers verblaßt, wie dem Europäer, sondern haben Zauberwirkung. Wie in der Surā-Geschichte der Siegeswunsch zum wirklichen Siege führt, so siegt in wedischer Zeit Indra durch den Siegeswunsch und Lobpreis der Windgötter. Niemand denkt sich bei uns mehr etwas dabei, wenn er einem Niesenden »Gesundheit!« zuruft. Der Inder, der in gleichem Falle »dschīwa!« (»lebe!«) ruft, weiß, daß er damit verhindert, daß dem Niesenden der Lebenshauch aus der Nase fährt. Die Metren erscheinen in Garuda verkörpert, z. B. im Sauparna. Ebenso erscheinen als Göttinnen oder Götter in Menschengestalt irgendwelche Zauber, besonders die Widjā, »Wissen«, d. h. bestimmte als Göttinnen gedachte Zauber, durch deren Besitz man zu einer Art göttlichen Wesens, Widjadhara oder »Wissensträger«, mit übernatürlichen Fähigkeiten wird, das Glück (die Göttin Lakschmi, auch = Reichtum und Herrschaft), das Bhagja (die Folge guter Taten in einem früheren Dasein). Im Rigweda finden sich zwei Hymnen, die an den »Zorn« gerichtet sind. Wie die eben genannten Widjadhara durch den Besitz der Widja, die man sich durch besondere Zeremonien noch aneignen (sadh) muß, zu göttlichen Wesen geworden sind, so erlangen die Jogin, meist schiwaitische Asketen, durch Zauber übernatürliche Kräfte. Der Zauber spielt in Indien überhaupt eine große Rolle; wer die verschiedenen Geheimwissenschaften studiert, vermag sich zum Herrn der Menschen wie höhere Wesen zu machen. Häufig erwähnt wird die namentlich durch Zauber bewirkte Herstellung eines goldenen Mannes, dessen abgeschnittene Glieder sich immer wieder ergänzen, wie man sich andererseits durch eine alchimistische Flüssigkeit Gold verschaffen kann. Durch Zauberpillen und magische Stirnzeichen vermag man seine Gestalt zu verwandeln. Dem Schiwa und seiner Gemahlin Durga (DewI, Bhattarika), deren Tempel auf den von allem Spuk umgebenen Verbrennungsplätzen stehen, welche zugleich Richtstätten und oft im Walde gelegen sind (»Väterhaine«, d. h. Ahnenhaine), huldigen auch die Hexen, die die übernatürliche Macht, die sie besitzen, namentlich dem Genuß von Menschenfleisch verdanken. Sie suchen darum nächtlicherweile die Verbrennungsplätze auf und verzehren die Leichen oder wissen sich auf andere Weise Menschenfleisch zu verschaffen. Weiter gewinnt man übernatürliche Kräfte durch strenge Askese, und ganz allgemein als Götter, die auf Erden wandeln, als »Erdengötter« (bhudewa) werden die Brahmanen bezeichnet. Der jeweilige Oberpriester der verschiedenen wischnuistischen Sekten gilt als Inkarnation Wischnus. Sonst genießen nur der König und die Königin göttliche Ehren, indem man sie mit dewa, »Gott«, und dewi, »Göttin«, anredet, was wir nach altem Herkommen abschwächend mit »Majestät« übersetzen. Zauberzeremonien sind die Opfer, durch die man die Götter in seine Dienste zwingt, seine Gegner vernichten und alles erreichen kann, was man will.

Unter den Dämonen sind besonders die Rākschasa (fem. RākschasĪ) zu nennen, welche teils eigene Staaten bewohnen, teils in der Menschenwelt und meist nächtlicherweile ihren Spuk treiben und sich von Menschenfleisch nähren, auf menschliche Frauen lüstern sind, in ihrer weiblichen Form auch die Pest verursachen und Schwangeren gefährlich werden, wie andere Dämonen die Menschen durch andere Krankheiten schädigen und die Empfängnis verhindern; niedere Götter sind die Jakscha, welche sich die brahmanischen Inder als Diener Kuberas, des Gottes des Reichtums, denken, während sie bei den Dschaina ohne diese Beschränkung oft als Schutzgottheiten von Dörfern und Städten, aber auch als Diener der Dschina erscheinen. Die Dämonen hausen namentlich gern auf Feigenbäumen (njagrōdha, vata, pippala), besonders wenn diese auf Leichenverbrennungsplätzen stehen.  - Nachwort zu: Indische Märchen. Hg. und Übs. Johannes Hertel, München 1953  (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

Polytheismus (4)  Daß der einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite — das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich: in der Tat haben die wenigen, die dies wagten, immer vor sich selber eine Apologie nötig gehabt, und diese lautete gewöhnlich: „Nicht ich! nicht ich! sondern ein Gott durch mich!" Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen — der Polytheismus — war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsam und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideal feind sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur eine Norm: „der Mensch" — und jedes Volk glaubte diese eine und letzte Norm zu haben. Aber über sich und außer sich, in einer fernen Überwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Zentauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen, diese starre Konsequenz der Lehre von einem Normalmenschen — also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt - war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Tiergattungen schon längst erreicht haben; als welche alle an Ein Normaltier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: so daß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine ewigen Horizonte und Perspektiven gibt.  Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Polytheismus (5)  Zu einem griechischen Polytheismus gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen Gott hat   - Friedrich Nietzsche, Notizen zu Unzeitgemäße Betrachtungen


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