Pikaia

Pikaia, das erste bekannte Chordatier der Welt, aus dem Burgess Shale. Man beachte die Merkmale unseres Stammes: die Rückensaite, den versteiften Strang am Rücken, aus dem sich unsere Wirbelsäule entwickelte, und die Zickzackstreifen der Muskelbänder.
Zeichnung von
Marianne Collins

Natürlich behaupte ich nicht, daß Pikaia selbst der wirkliche Ahne von Wirbeltieren ist. Ich bin auch nicht so töricht, zu erklären, daß alle Chancen für eine Chordatenzukunft auf Pikaia im Mittel-Kambrium ruhten; es müssen auch noch andere Chordaten, die man noch nicht entdeckt hat, die kambrischen Meere bewohnt haben. Ich vermute aber aufgrund der Seltenheit von Pikaia im Burgess Shale und des Fehlens von Chordaten in anderen unterpaläozoischen Lagerstätten, daß unser Stamm nicht zu den großen kambrischen Erfolgsstories gehörte und daß den Chordaten in Burgess-Zeiten nur eine armselige Zukunft bevorstand.

Pikaia ist das letzte fehlende Glied in unserer Geschichte der Kontingenz, die direkte Verbindung zwischen der Burgess-Dezimierung und der schließlichen Evolution zum Menschen. Wir brauchen nicht mehr von Dingen zu reden, die am Rande unserer näheren Interessen liegen, also von Dingen wie alternative Welten, die von kleinen Peniswürmern wimmeln, marrelliforme Arthropoden und furchterregende Anomalocariden, die Fische verschlingen. Spulen wir das Band des Lebens bis zur Burgess-Zeit zurück und lassen wir es noch einmal ablaufen. Wenn Pikaia im zweiten Durchlauf nicht überlebt, sind wir aus der künftigen Geschichte getilgt, und zwar wir alle, vom Hai über das Rotkehlchen bis zum Orang-Utan, Und ich glaube nicht, daß ein Kampfrichter angesichts des heute bekannten Burgess-Materials dem Überleben von Pikaia große Chancen eingeräumt hätte.

Wenn Sie also die ewige Frage stellen möchten, warum der Mensch existiert, dann muß die Antwort, zumindest hinsichtlich jener Aspekte, die überhaupt von der Wissenschaft behandelt werden können, so lauten: weil Pikaia die Burgess-Dezimierung überlebte. Darin wird nicht ein einziges Naturgesetz bemüht, keine Aussage über vorhersagbare Wege der Evolution gemacht, keine Berechnung von Wahrscheinlichkeiten anhand allgemeiner Regeln der Anatomie oder der Ökologie angestellt. Das Überleben von Pikaia war eine Kontingenz »bloßer Geschichte«. Eine »höhere« Antwort kann, denke ich, nicht gegeben werden, und ich kann mir auch keine Lösung vorstellen, die faszinierender wäre. Wir sind das Ergebnis von Geschichte, und wir müssen selbst unsere Wege festlegen in diesem vielfältigsten und interessantesten aller denkbaren Universen, einem Universum, das gleichgültig ist gegen unser Leiden und uns daher die größte Freiheit gewährt, zu gedeihen oder zu scheitern auf die Weise, die wir gewählt haben. - (go)

  Burgess Shale-Bestiarium
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