hrase   Gütling schrieb Gedichte und - wenn ich nicht irre - auch Dramen, die nie aufgeführt wurden, bewunderte Richard Wagner und den, wie er sagte, altgermanischen Stabreim und konnte Doktor Treml nicht leiden, da Kafkas unmittelbarer Bürokollege Gütlings Literarprodukte mit der »hell hinauf wabernden Waberlohe«, die Gütling im Selbstverlag herausgab, unverhohlen als eine »vollbärtige Mittelstandspoesie« bezeichnete, die einen »von der Herrschaft abgelegten altgermanischen Spießeridealismus« verzapfe.

Doktor Treml war nämlich außer auf seine Ähnlichkeit mit dem Grafen Berchtold noch auf seine prononciert bürgerlich-materialistische Weltanschauung eingebildet. Ich sah auf seinem Tisch oft Bücher von Ernst Haeckel, Charles Darwin, Wilhelm Bölsche und Ernst Mach herumliegen. Es war also nichts Außergewöhnliches, daß ich einmal, als ich Doktor Kafka besuchte, neben seinem Schreibtisch Herrn Gütling antraf, der in der Hand ein großes, schwarzgebundenes Buch hielt, dessen goldgepreßten Titel er eben vom Lederrücken des Bandes ablas.

»Darwin - Die Entstehung der Arten«. - Er seufzte. »Na ja, der Herr Graf sucht bei den Affen seine Vorfahren.«

Dabei suchte Gütling durch ein Augenzwinkern Doktor Kafka zu einer Beipflichtung zu bewegen. Doch Kafka schüttelte energisch den Kopf und bemerkte ohne besondere Betonung: »Ich glaube, daß dies nicht mehr aktuell ist. Es handelt sich Jetzt nicht mehr um die Vorfahren, sondern um die Nachkommen.«

»Wieso?« Gütling legte das Buch auf den Tisch. »Treml ist doch Junggeselle!«

»Ich spreche nicht von Treml, sondern von der ganzen Menschenfamilie«, sagte Kafka und schob seine knochigen Finger vor der Brust ineinander. »Denn wenn es so weitergeht, werden die Welt sehr bald nur noch in Serien erzeugte Automaten bevölkern.«

Gütling lächelte: »Sie übertreiben, Herr Doktor. Das ist eine Utopie.« - Sein Blick pendelte einige Augenblicke hilflos zwischen Doktor Kafka und mir. Dann blieb er an Doktor Kafkas Nasenwurzel haften, und Gütling meckerte: »Das ist so etwas wie Ihre Verwandlung. Ich verstehe solche Dinge. Ich bin ja selbst Dichter.« Kafka nickte: »Ja, das sind Sie.«

Gütling hob abwehrend beide Hände. »Nur im Nebenberuf!  Im Hauptberuf bin ich nur ein ziemlich bedeutungsloser Beamter. Darum muß ich jetzt auch schon gehen.« Er verabschiedete sich.

Nachdem er gegangen war, fragte ich - wie ich mich heute noch genau erinnere - mit bekümmerter Enttäuschung in der Stimme: »Sie halten ihn wirklich für einen Dichter?« In Kafkas Augen erschienen kleine, grünliche Funken. Er schmunzelte: »Ja, wörtlich. Er ist ein Dichter, ein dichter Mensch.«

Ich lachte: »Also vernagelt!«

Kafka hob abwehrend beide Hände, als wollte er mein Auflachen an mich zurückschieben und meinte mit leisem Protest in der Stimme: »Das habe ich nicht gesagt! Er ist dicht. Die Wirklichkeit kann in ihn nicht eindringen. Er ist von ihr vollkommen abgedichtet.« »Wodurch?«

»Durch den Mist verbrauchter Worte und Vorstellungen. Die sind fester als dicke Panzerplatten. Die Menschen verbergen sich hinter ihnen vor dem Wandel der Zeit. Darum ist die Phrase das stärkste Bollwerk des Bösen. Sie ist das beständigste Konservierungsmittel aller Leidenschaften und Dummheit.«  - Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981 (Fischer Tb. 5093, zuerst 1954)

Dichter Geschwätz Dummheit
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