hotosession    Auf einer Art niedrigem Podium am einen Ende des Raums stand ein hochlehniger Teakholzsessel, darin saß Miss Carmen Sternwood auf einem orangenen Fransenschal. Sie saß sehr gerade, die Hände auf den Armlehnen, die Knie eng zusammen, den Körper steif aufrecht in der Pose einer ägyptischen Göttin, das Kinn erhoben, die Lippen über ihren kleinen, hell schimmernden Zähnen geteilt. Ihre Augen waren weit geöffnet. Das dunkle Schiefergrau der Iris hatte die Pupille verschlungen. Es waren irre Augen. Sie schien bewußtlos zu sein, aber sie hatte nicht die Haltung einer Bewußtlosen. Sie sah aus, als täte sie, im Geist, etwas sehr Wichtiges und täte es sehr gut. Aus ihrem Mund kam ein dünn kichernder Laut, der ihren Gesichtsausdruck weder veränderte noch ihre Lippen bewegte.

Sie trug ein Paar lange Jadeohrringe. Es waren hübsche Ohrringe, und sie hatten sicherlich etliche hundert Dollar gekostet. Sonst trug sie nichts. Sie hatte einen prächtigen Körper, klein, geschmeidig, fest, kräftig, wohlgerundet. Ihre Haut im Lampenlicht hatte den schimmernden Glanz einer Perle. Ihre Beine hatten nicht ganz den verruchten Reiz von Mrs. Regans Beinen, aber sie waren sehr hübsch. Ich besah mir das Mädchen ohne Verlegenheit oder Gier. Als nacktes Mädchen existierte sie in diesem Raum überhaupt nicht. Sie war nichts als süchtig. Für mich war sie einfach nur süchtig.

Ich hörte auf, sie anzusehen, und sah auf Geiger. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden, hinter dem Rand des chinesischen Teppichs, vor einem Ding, das wie ein Totempfahl aussah. Das Ding hatte das Profil eines Adlers, und sein großes, rundes Auge war eine Kameralinse. Die Linse zielte auf das nackte Mädchen im Sessel. Eine ausgebrannte Blitzlichtbirne war seitlich in den Totempfahl geklemmt. Geiger trug chinesische Pantoffeln mit dicken Filzsohlen, seine Beine steckten in einem schwarzen Seidenpyjama, und seine obere Hälfte trug eine chinesisch bestickte Jacke, die vorn fast nur aus Blut bestand. Sein Glasauge blinkte hell zu mir auf und war bei weitem das Lebendigste an ihm.  Er war sehr tot.  - Raymond Chandler, Der große Schlaf. Zürich 1974 (detebe 20132, zuerst 1939)


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