Parteiensystem  Innerhalb der Geschichte vertrat jeder der beiden seine Parteimeinung, und das nicht nur für Brasilien: sie trugen die brasilianischen Meinungskämpfe der Gegenwart über alle Epochen und Schauplätze der Welt bis zurück zu den Urgründen menschlichen Lebens aus. Innerhalb der griechischen Geschichte beispielsweise nahm Clemens für Sokrates Partei, der seiner Ansicht nach den Fortschritt und die politische Avantgarde jener Epoche vertrat, und Samuel ergriff die Partei der Aristokraten, die den häßlichen und zerlumpten Philosophen des Volkes vergiftet hatten. Samuel behauptete, Sokrates habe mit seiner zersetzenden Kritik an den religiösen und familiären Traditionen der Griechen wirklich die Jugend verdorben. Innerhalb der römischen Geschichte ergriff Clemens die Partei des Marius, des »Volksführers«, und Samuel die des Sulla, »des aristokratischen Tyrannen«. In einer spateren Geschichtsepoche stand unser Philosoph, wenn sie diesen Teil der Diskussion abschlossen, auf der Seite des Brutus und der Poet auf der Cäsars.

In ähnlicher Weise nahmen sie wutentbrannt auch in allem übrigen Partei. Die Soziologie war das Eigentum der Linken, und die Literatur war stark verdächtig, der Rechten nahezustehen. »Das satirische Gelächter und die Wirklichkeit« standen links, »der monolithische Ernst und der Traum» gehörten der Rechten. Die Prosa gehörte zum Bereich der Linken und die Poesie zu dem der Rechten; doch bezogen sie sogar innerhalb der Poesie Position, denn die reine Lyrik geriet in den Verdacht, »persönlich, subjektiv und deshalb rechtsstehend und reaktionär« zu sein, wahrend die satirische »soziale versittlichende Lehrdichtung« als progressiv und linksstehend galt. Die Natur mit ihrem »harten und grausamen Kampf ums Dasein, mit ihrer Barbarei, ihrer Unordnung, dem Überleben des Stärkeren und allen Merkmalen, die vom Geist des Chaos und der Finsternis zeugten«, stand rechts. Die Stadt hingegen, »ein organisiertes Gemeinwesen, das auf Fortschritt, Arbeit und Maschinen basierte«, stand links. Innerhalb der Gesellschaft stand das männliche Geschlecht, weil es stärker, herrschsüchtiger und ausbeuterischer war als das weibliche, rechts, und das weibliche Geschlecht, das, ausgebeutet, schwach, ressentimentgeladen, revoltierte, links. Im Reich des Geschmacks jedoch stand das männliche Geschlecht mit seiner nüchternen Schmucklosigkeit der Linken nahe, während das weibliche mit seiner Vorliebe für Stoffe und Juwelen rechts stand.

Und so ging es in allen Bereichen weiter. So tiefgreifend war der Streit, daß Professor Clemens, obwohl er Atheist war, für Augenblicke seinen Atheismus vergaß, um selbst innerhalb der Dreifaltigkeit Partei zu ergreifen. Er sagte, er verabscheue Gottvater, der als ein Gott der Wüste, der Gewalttätigkeit, der Strafen, der Plagen, der Tempel aus Gold, Porphyr, Opalen und Diamanten, der bannerschwingenden Heerscharen, der Kriege und der brennenden Dornbüsche sichtlich der Rechten nahestehe; das hatte sogleich zur Folge, daß Samuel, seinem unerbittlichen Katholizismus zum Trotze, den er selber als »rechtgläubig, altüberliefert, inquisitorisch, reaktionär und obskurantistisch« bewertete, gegen den Sohn Gottes Partei nahm, der seiner Meinung nach ein »offenkundiger Demagoge war, den Pöbel begünstigte und zu Klassenkämpfen aufhetzte«.  - (stein)

Parteiensystem (2) »Zwar gab es zu Anfang eine Spaltung, bei der sich die Mitglieder des Landadels auf Aresios Seite schlugen und sich das städtische Bürgertum um António Moraes und den Komtur Basilio Monteiro scharte, der in politischen Dingen dem Zuckermühlenbesitzer aus Pernambuco folgte. Später aber schlossen sich die beiden Flügel aus Gründen, die ich noch erklären werde, wieder zusammen, so daß die mächtigste Partei im Sertão voll und ganz hinter Aresios Sache stand. Sinesios Anhänger dagegen waren die Viehtreiber, die Transportarbeiter, die Zigeuner, die Waschfrauen, die Viehirten, die Landarbeiter, die Damen vom Gunstgewerbe, die Strohhutflechter, die flintenbewehrten Leibwächter, die Trödlerinnen, die Volksbarden und die Cangaceiros . . .«

»Sie rekrutierten sich also aus dem Volk, aus dem Pöbel des Sertão, nicht wahr?« unterbrach der Richter einigermaßen ungeduldig.

»Ew. Ehren können das nennen, wie Sie wollen. Getreu den Lehren von Samuel, Clemens, Carlos Dias Fernandes, João Martins de Athaide, Gustave Barroso und anderen Meistern betrachte ich alle diese Leute, vor allem die Männer, die ein Pferd besteigen, und die Mädchen, die schön zu bleiben verstehen, obwohl sie Unglück und Hunger besiegen mußten, als Edelleute und Prinzessinnen des brasilianischen Volkes. Denken Sie nur daran, daß man im ganzen übrigen Brasilien die Prostituierten ›rapariga‹ nennt, hier im Sertão dagegen ›mulherdama‹, ›Frauendame‹, was sie wie adlige Pikdamen, Herzdamen, Kreuzdamen und Karodamen erscheinen läßt.«    - (stein)

 

Partei System

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme