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johns
)
Opium (2) Während ich mit meinen vom Fieber heißen Lippen den sauren Kelch austrank, in dem das Vergessen schlief, schrumpften im klaffenden Sessel meine Leichenhände zusammen, und meine vergrößerten Augen, Augurenaugen, schweiften den weißen Himmel entlang, wo die reitenden Walküren in den volltönenden Spiralen der Ziegenmelker wenden.
Und mein Astralleib wurde, während er meinen irdischen Leib an der Ferse verwundete, zum Pilger und hinterließ in meinen Nerven Gitarrenklirren.
Und ich betrat ein riesiges Schauhaus, wo die Toten aufgebahrt schliefen, mit gekreuzten Armen, die rechte Wade an der linken Ferse, die Köpfe zur Brust gekehrt. Und Arbeiter - ob das wohl auch Tote waren? - reinigten sie lebhaft und vortrefflich mit dem Schwamm. Ihre riesigen Schwämme sind Gehirne, in denen sich Adernetze hinschlängeln. Und das Wasser erstarrt auf den erkalteten Toten wie dreckiger Firnis, aus dem Teichgrashaare zum Vorschein kommen; und das Wasser erstarrt endlos auf den Fliesen, und das Wasser rieselt in durchsichtigen Wänden und macht sie zu Vitrinen. Und trotzdem es ständig erstarrt und vereist ist, fließt es ständig.
Und mein Astralleib beschleunigte hinter ihm seine lautlosen Schritte. Es floß unaufhörlich, bergauf oder bergab, ohne die Gesetze der Schwerkraft zu beachten, damit es sich in eindrucksvollen Mengen ansammelte. Und ich sah eine Enge, wo eine nach der andern seiner Wellen sich aufbäumend meergraugrüne Treppen erklommen und aus dem Lot traten. Und ich schwang mich auf die Stufen, in nahe Berührung zu einer zahllosen Menge tretend, einer Menge in Aufruhr oder in Jubel, ohne, wie sehr auch immer das Eis grüne Tränen weinte, auf der so steilen Treppe auszugleiten, die ich wie eine Leiter umfaßte. Und oben wurde das ewig tiefe Wasser eben, wo die schweigenden Fischottern und die stummen Wasserratten die Schneckenlinien ihres Schwanzes wandten. Und ich stieg verdrießlich wieder herab, da mich die Menge daran hinderte, sie zu sehen; stieg wieder herab, wobei ich die Eisstufen küßte. Eine derartige Kälte drang da bis zu meinen Knochen vor, daß die Toten zu meinen Füßen, am Ende der Stufen, mir lauwarm und lebend erschienen, trotz ihren angeklebten Wimpern und ihren speichelnden Lippen und ihren fest wie Schneckenhäusern geschlossenen Nasenlöchern; und am fernen Horizont schien mir mein irdischer Leib mit den Zähnen zu klappern und seine Tropfsteinrippen, ohne Kraft, sie wieder zu erwärmen, in seine Arme zu schließen. Und, wieder unten, blendete mich die Treppe aus Linsenglasstufen mit ihrem gelben Leuchten.
Und ein höflicher Angestellter, der die Toten wusch, sagte zu mir: »Hören Sie auf zu klagen, wir leben seit hundert Jahren nicht mehr; gehen Sie geradeaus den Gang entlang und zählen Sie die Jahre. Dreißig Jahre weiter werden Sie ein Schauhaus finden, wo die Dichter schnarchen, wo Telefone zu den Toten durch die Eiswände sprechen; wo Mörder durch Spezialfensteröffnungen gestehen.«
Als ich dreißig Jahre weiter einen Kupferknopf drehte, betrat ich einen Saal - so eine Art Telegrafenamt, - wo ich einem Mensch mit einem Federhalter hinterm Ohr, der mich fragte, was ich wollte, auf gut Glück die Antwort gab: »Ich komme wegen des Toten Nr. 4.«
»Der Beweis, daß Sie ihn getötet haben? Keine Papiere, kein Messer mit Pingerabdrücken?
Macht nichts, ich verlasse mich auf Ihr ehrliches Aussehen; an der sechsten
Pforte empfangen Sie das Geld, das er bei sich hatte.« - (
jar
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Opium (3) Der nervöse Auguste Bedloe, der
jeden Morgen vor seinem Spazicrgang seine Dosis Opium hinunterschluckt,
gesteht uns, daß der hauptsächlichste Vorteil, den er aus dieser
täglichen Vergiftung zieht, darin besteht, für alles, selbst für das
Trivialste, übertriebenes Interesse an den Tag zu legen: «Mittlerweile
hatte das Opium seine gewohnte Wirkung gezeigt. Diese besteht darin, daß
die ganze Außenwelt ein intensives Interesse annimmt. In dem Beben
eines Blattes, in der Farbe eines Grashalms, in der Form eines
Kleeblatts, im Summen einer Biene, im Glanz eines Tautropfens, im
Seufzen des Windes, in dem bestimmten Duft, der aus dem Wald
herüberdringt, tat sich eine ganze Welt von Eingebungen, eine
wundervolle und bunte Folge von ungeordneten und rhapsodischen Gedanken
kund.» - Charles Baudelaire,
Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)
Opium (5) An wieviel wundervollen Stellen
beschreibt Edgar Poe - dieser unvergleichliche Dichter, dieser nie
widerlegte Philosoph, den man im Hinblick auf geheimnisvolle
Geisteskrankheiten immer zitieren muß - nicht die düsteren und
fesselnden Herrlichkeiten des Opiums. Der Geliebte der lichtvollen Berenice,
der Metaphysiker Egöus, spricht von einer Veränderung seiner
Fähigkeiten, die ihn dazu zwingt, den einfachsten Phänomenen einen
anomalen, widernatürlichen Wert bcizumcs-sen: «Unermüdlich und
stundenlang überlegen, die Aufmerksamkeit fest auf irgendein kindisches
Zitat am Rande oder im Text eines Buches gerichtet, den größten Teil
eines Sommcrtages, schräg auf dem Teppich oder auf dem Fußboden
ausgestreckt liegend, in einen wunderlichen Schatten vertieft verharren,
mich eine ganze Nacht lang dabei vergessen, die aufrecht züngelnde
Flamme einer Lampe oder die Gluten im Herd zu überwachen, ganze Tage
lang über dem Duft einer Blume verträumen, in monotoner Art irgendein
gewöhnliches Wort wiederholen, bis der Klang infolge der Wiederholung
authört, dem Geist irgendeine Idee zu vermitteln: das waren einige der
üblichsten und am wenigsten verderblichen Verirrungen meiner geistigen
Fähigkeiten, Verirrungen, die zweifellos nicht unbedingt ohne Vorbilder
sind.
- Charles Baudelaire,
Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)
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