pium   Sonntag, den 23. März, nahm ich das Frühstück bei Dr. Johnson ein, der sehr viel besser dran schien, da er die Nacht zuvor Opium genommen hatte. Er sprach sich aber dagegen aus; es sei ein Heilmittel, das nur im äußersten Notfall und auch dann nur mit größter Vorsicht verabfolgt werden dürfe. Ich wies darauf hin, wie verbreitet es in der Türkei sei, und daß es somit nicht so schädlich sein könne, wie er befürchte. «Türken nehmen Opium und Christen nehmen Opium», entgegnete er, «aber Russell sagt in seinem Buch über Aleppo, der Opiumsüchtige werde in der Türkei ebenso verachtet wie bei uns der Trunksüchtige. Es ist nicht zu glauben, wie leichtfertig verallgemeinert wird. Da hat letzthin einer in Gesellschaft behauptet, in Frankreich halte jeder Mann von Welt, sobald er heirate, nebenbei eine Ballettratte aus, und zwar sei dies allgemein der Brauch. ,Bitte', sagte ich, »wie groß ist denn das Ballett?' ,Etwa sechs Dutzend Tänzerinnen', lautete die Antwort. ,Na also', sagte ich, ,dann können sich offenbar nicht mehr als sechs Dutzend Herren an diesen Brauch halten'.»  - (johns)

Opium (2)   Während ich mit meinen vom Fieber heißen Lippen den sauren Kelch austrank, in dem das Vergessen schlief, schrumpften im klaffenden Sessel meine Leichenhände zusammen, und meine vergrößerten Augen, Augurenaugen, schweiften den weißen Himmel entlang, wo die reitenden Walküren in den volltönenden Spiralen der Ziegenmelker wenden.

Und mein Astralleib wurde, während er meinen irdischen Leib an der Ferse verwundete, zum Pilger und hinterließ in meinen Nerven Gitarrenklirren.

Und ich betrat ein riesiges Schauhaus, wo die Toten aufgebahrt schliefen, mit gekreuzten Armen, die rechte Wade an der linken Ferse, die Köpfe zur Brust gekehrt. Und Arbeiter - ob das wohl auch Tote waren? - reinigten sie lebhaft und vortrefflich mit dem Schwamm. Ihre riesigen Schwämme sind Gehirne, in denen sich Adernetze hinschlängeln. Und das Wasser erstarrt auf den erkalteten Toten wie dreckiger Firnis, aus dem Teichgrashaare zum Vorschein kommen; und das Wasser erstarrt endlos auf den Fliesen, und das Wasser rieselt in durchsichtigen Wänden und macht sie zu Vitrinen. Und trotzdem es ständig erstarrt und vereist ist, fließt es ständig.

Und mein Astralleib beschleunigte hinter ihm seine lautlosen Schritte. Es floß unaufhörlich, bergauf oder bergab, ohne die Gesetze der Schwerkraft zu beachten, damit es sich in eindrucksvollen Mengen ansammelte. Und ich sah eine Enge, wo eine nach der andern seiner Wellen sich aufbäumend meergraugrüne Treppen erklommen und aus dem Lot traten. Und ich schwang mich auf die Stufen, in nahe Berührung zu einer zahllosen Menge tretend, einer Menge in Aufruhr oder in Jubel, ohne, wie sehr auch immer das Eis grüne Tränen weinte, auf der so steilen Treppe auszugleiten, die ich wie eine Leiter umfaßte. Und oben wurde das ewig tiefe Wasser eben, wo die schweigenden Fischottern und die stummen Wasserratten die Schneckenlinien ihres Schwanzes wandten. Und ich stieg verdrießlich wieder herab, da mich die Menge daran hinderte, sie zu sehen; stieg wieder herab, wobei ich die Eisstufen küßte. Eine derartige Kälte drang da bis zu meinen Knochen vor, daß die Toten zu meinen Füßen, am Ende der Stufen, mir lauwarm und lebend erschienen, trotz ihren angeklebten Wimpern und ihren speichelnden Lippen und ihren fest wie Schneckenhäusern geschlossenen Nasenlöchern; und am fernen Horizont schien mir mein irdischer Leib mit den Zähnen zu klappern und seine Tropfsteinrippen, ohne Kraft, sie wieder zu erwärmen, in seine Arme zu schließen. Und, wieder unten, blendete mich die Treppe aus Linsenglasstufen mit ihrem gelben Leuchten.

Und ein höflicher Angestellter, der die Toten wusch, sagte zu mir: »Hören Sie auf zu klagen, wir leben seit hundert Jahren nicht mehr; gehen Sie geradeaus den Gang entlang und zählen Sie die Jahre. Dreißig Jahre weiter werden Sie ein Schauhaus finden, wo die Dichter schnarchen, wo Telefone zu den Toten durch die Eiswände sprechen; wo Mörder durch Spezialfensteröffnungen gestehen.«

Als ich dreißig Jahre weiter einen Kupferknopf drehte, betrat ich einen Saal - so eine Art Telegrafenamt, - wo ich einem Mensch mit einem Federhalter hinterm Ohr, der mich fragte, was ich wollte, auf gut Glück die Antwort gab: »Ich komme wegen des Toten Nr. 4.«

»Der Beweis, daß Sie ihn getötet haben? Keine Papiere, kein Messer mit Pingerabdrücken? Macht nichts, ich verlasse mich auf Ihr ehrliches Aussehen; an der sechsten Pforte empfangen Sie das Geld, das er bei sich hatte.«   - (jar)

Opium (3)  Der nervöse Auguste Bedloe, der jeden Morgen vor seinem Spazicrgang seine Dosis Opium hinunterschluckt, gesteht uns, daß der hauptsächlichste Vorteil, den er aus dieser täglichen Vergiftung zieht, darin besteht, für alles, selbst für das Trivialste, übertriebenes Interesse an den Tag zu legen: «Mittlerweile hatte das Opium seine gewohnte Wirkung gezeigt. Diese besteht darin, daß die ganze Außenwelt ein intensives Interesse annimmt. In dem Beben eines Blattes, in der Farbe eines Grashalms, in der Form eines Kleeblatts, im Summen einer Biene, im Glanz eines Tautropfens, im Seufzen des Windes, in dem bestimmten Duft, der aus dem Wald herüberdringt, tat sich eine ganze Welt von Eingebungen, eine wundervolle und bunte Folge von ungeordneten und rhapsodischen Gedanken kund.» - Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)

Opium (5)  An wieviel wundervollen Stellen beschreibt Edgar Poe - dieser unvergleichliche Dichter, dieser nie widerlegte Philosoph, den man im Hinblick auf geheimnisvolle Geisteskrankheiten immer zitieren muß - nicht die düsteren und fesselnden Herrlichkeiten des Opiums.  Der Geliebte der lichtvollen Berenice, der Metaphysiker Egöus, spricht von einer Veränderung seiner Fähigkeiten, die ihn dazu zwingt, den einfachsten Phänomenen einen anomalen, widernatürlichen Wert bcizumcs-sen: «Unermüdlich und stundenlang überlegen, die Aufmerksamkeit fest auf irgendein kindisches Zitat am Rande oder im Text eines Buches gerichtet, den größten Teil eines Sommcrtages, schräg auf dem Teppich oder auf dem Fußboden ausgestreckt liegend, in einen wunderlichen Schatten vertieft verharren, mich eine ganze Nacht lang dabei vergessen, die aufrecht züngelnde Flamme einer Lampe oder die Gluten im Herd zu überwachen, ganze Tage lang über dem Duft einer Blume verträumen, in monotoner Art irgendein gewöhnliches Wort wiederholen, bis der Klang infolge der Wiederholung authört, dem Geist irgendeine Idee zu vermitteln: das waren einige der üblichsten und am wenigsten verderblichen Verirrungen meiner geistigen Fähigkeiten, Verirrungen, die zweifellos nicht unbedingt ohne Vorbilder sind.
  - Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese. Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)


Volksheilmittel Rauschmittel

 


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