Opferwahl   Die einzige Frage, die ihm Kopfzerbrechen machte, war, daß er nicht wußte, wen er wegzuräumen hatte; denn er war keineswegs blind der Tatsache gegenüber, daß ein Mord, wie die Religionen der Wilden, sowohl ein Opfer wie einen Priester benötigt. Da er kein Genie war, hatte er keine Feinde, und er fühlte deutlich, daß dieser Augenblick nicht die Zeit war, persönlichen Groll oder Haß zu befriedigen, sondern daß seine Aufgabe große und ernstliche Feierlichkeit erforderte. So schrieb er denn eine Liste seiner Freunde und Verwandten auf ein Blatt Papier, und nach langer Überlegung entschied er sich für Lady Clementina Beauchamp, eine liebe alte Frau, die in Curzon Street wohnte und seine Kusine zweiten Grades mütterlicherseits war. Er hatte Lady Clem, wie sie allgemein genannt wurde, immer sehr gern gemocht, und da er seinerseits sehr reich war — er hatte alles Eigentum Lord Rugbys geerbt, als er volljährig wurde —, so blieb die Möglichkeit nicht bestehen, daß er gemeinen materiellen Vorteil aus ihrem Tod zöge. Ja, je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schien sie ihm die einzige richtige Person zu sein.   - Oscar Wilde, Lord Arthur Saviles Verbrechen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel 30, Hg. Jorge Luis Borges)

Opferwahl (2) Er hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt, für den Fall, daß man ihn nach einem Waffenschein fragen würde. „Was, braucht man denn für so ein Messer einen Waffenschein? Ich habe meinen zu Hause vergessen." Was sollte er denn sonst sagen?

„Soll ich es als Geschenk verpacken?" ;   „Ja, bitte."   Zweiter Schritt: jetzt ja, jetzt ein Opfer auswählen.

Eine Prostituierte natürlich. Psychopathen töten immer Prostituierte, und sie suchen sie auf gut Glück aus. Sie gehen ins Nuttenviertel, werfen ein Auge auf eine, die ist es, „Du, wieviel?" - „Soundsoviel" - „Okay, laß uns gehen", und auf dem Weg, zack, setzt du ihr das Messer an die Kehle, du tust so, als würdest du sie umarmen, „Ach, Schätzchen, ich bin ganz verrückt nach dir", zack, und dann schneidest du ihr die Kehle durch. Der Psychopath bereitet sich innerlich darauf vor, während er mit der U-Bahn ins Nuttenviertel fährt, er malt sich aus, wie er sich verhalten wird, im Augenblick des Mordes. Er tut so, als wolle er der Nutte einen Kuß geben, und dann... Aber dann wäre die Hand mit dem Messer auf ihrem Rücken, und wenn nicht, dann auf jeden Fall unterhalb der Gürtellinie, und so kann man niemandem die Kehle durchschneiden. Natürlich könnte er ihr das Messer zuerst in den Rücken rammen, aber er findet diese Stellung nicht sehr elegant und schon gar nicht einem Psychopathen angemessen, oder er könnte es ihr in den Unterleib stoßen, aber dann sähe er nicht, wie sich die Klinge in das Fleisch dieses Weibsbildes bohrt, dann sähe er das Blut nicht, und all das, worauf Psychopathen so abfahren. Mal überlegen, wie er es machen könnte. (Er muß aufpassen, daß man ihm seine Gedanken nicht ansieht, denn die Leute in der U-Bahn haben nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig anzustarren, und die achten auf sowas.) Mal sehen: Und wenn er die Prostituierte von hinten umarmen würde? „Dreh dich um."  „Warum?" Vielleicht war sie eine von denen, die nie jemandem den Rücken zukehren, eins von diesen mißtrauischen, schnippischen und widerspenstigen Weibern. Frauen haben ohnehin kein Rückgrat, und Prostituierte? Prostituierte haben wahrscheinlich eins, denn sie sind ja keine richtigen Frauen.

Für den Psychopathen sind Prostituierte keine richtigen Frauen. Sie sind Ungeziefer, das ausgerottet werden muß. Das hat er einmal in einem Buch gelesen. Psychopathen befolgen nicht die Gebote Gottes, auch nicht die anderer überirdischer Mächte, sie schlitzen keine Bäuche auf, um zu sehen, ob sich der Antichrist darin befindet, das ist Sache der Verrückten. Psychopathen töten aus Lust. Aus Rachlust oder aus sexueller Lust, die schwer zu beschreiben ist. In diesem Fall handelt es sich um Rachlust. Fünf Jahre hat der Psychopath gesessen, weil eine Prostituierte behauptet hat, er habe sie angegriffen. Sie hat gesagt, daß er versucht habe, sie mit der Nachttischlampe zu vergewaltigen, ihr die brennende Glühbirne reinzustecken, aber zum Glück sei ihr Macker dagewesen, um ihn daran zu hindern und ihn windelweich zu schlagen und an den Ohren aufs Kommissariat zu schleifen, wo er Beziehungen hatte, weil er als Spitzel sehr geschätzt war. Und damals hat der Psychopath allen Prostituierten ewigen Haß geschworen, fünf Jahre lang hat er Tag und Nacht ewigen Haß geschworen, und er hat sich felsenfest vorgenommen, so viele Prostituierte wie möglich zu töten, sobald er entlassen wird, aber das ist leichter gesagt als getan. Fünf Jahre später stand er da und beobachtete die Nuttenschar, die sich auf der Straße tummelte, mitten in der Nacht, so viele, daß er nicht wußte, mit welcher er anfangen sollte.  - Andreu Martín, Die Stadt, das Messer und der Tod. Bühl-Moos, Baden-Baden  1994

 

Wahl Opfer

 

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