Ohrenlosigkeit    Ich erstaunte nicht wenig, als um die zehnte Morgenstunde, vorher von meinem Diener angemeldet, ein Fremder meine Stube betrat, dem, wie ich auf den ersten Blick sah, die Ohren abgeschnitten waren. Die Narben rings um die Ohrlöcher verrieten mir, daß diese Verstümmelung vor nicht sehr langer Zeit stattgefunden haben müßte. Möglicherweise wegen eines Deliktes gegen die Staatsgesetze. Da ich wußte, daß leider nur zu oft Unschuldige hierzulande zu solcher Strafe verurteilt werden, beschloß ich, kein Vorurteil gegen den Fremden zu hegen. Zudem trugen seine Gesichtszüge keine Ähnlichkeit mit dem Antlitz, von dem ich des Nachts geträumt hatte. Ich nahm vielmehr an, es müßte sich um einen hellsehenden Traum für den kommenden Tag gehandelt haben. Der Fremde war größer gewachsen als ich und von breiter und derber Statur, die auf keine besonders vornehme Herkunft deutet. Sein Alter war schwer zu bestimmen, denn langes Haar und ein voller, ein wenig wirr gezauster Spitzbart verbargen sein fast kinnloses Gesicht mit der fliehenden Stirn und der frech vorspringenden, schnabelartigen Nase. Er schien noch ziemlich jung zu sein und ich möchte ihn kaum älter als in den ausgehenden Dreißigern schätzen. Er hat mir später zu wissen gegeben, er habe noch nicht einmal das achtundzwanzigste Jahr vollendet. Er wäre also jünger noch als meine Frau Jane Fromont. Dennoch will dieser Mensch bei seinen geringen Jahren England der kreuz und quer, sowie auch Frankreich und die holländischen Provinzen bereist und vielerlei Fahrten unternommen haben. So ist auch sein Aussehen: abenteuerlich, unstät und nach den Furchen in seinem Gesicht zu schließen, vom Schicksal grausam durchgepflügt.  - Gustav Meyrink, Der Engel vom westlichen Fenster. München 1984 (zuerst 1927)
 

Ohrenabschneiden Mangel

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme