berlippe  Wir steigen in das Boot, das nach Amerika fährt. Es ist schwarz und schmutzig. Das Wasser bauscht sich wie mattgraue Seide. der Kapitän schreit mich an: ich solle nicht so spritzen; zu was ich eigentlich mein Hemd anhabe? Zur Strafe läßt er mich über Bord werden. Da sitze ich mit vielen anderen auf einem notdürftig gezimmerten Floß, dessen Form nicht rechteckig, sondern kreisförmig ist. Wir ziehen verzweifelt an einer armdicken rostrauhen Kette. Unsere Hände sind behaart, vor Anstrengung scheinen unsere Gesichter zu grinsen. Zu Tode erschöpft gelangen wir endlich ans Ufer.

Jetzt bin ich in einer niedrigen, überheizten Wirtsstube. Meine Verwandten sind da, John nicht, aber Tante Lene. Es scheint mir das Wirtshaus von Goßmann in Bierstadt zu sein. Fremde Gäste sind keine dort. Ich habe starkes Erbrechen, fühle mich dabei aber wohl, bin auf und gut angezogen. Erschreckt läßt man den Arzt holen. Der schaut mich kurz an, dann sagt er: "Sie haben die Cholera". Da scheint mir, daß ich diesen Arzt schon einmal wo getroffen haben muß. Ich gehe hinaus, um Welkenbachs Mädchen, die ein paar Häuser nebenan wohnen, um ihnen zu sagen, daß ich die Cholera habe und eventuell sterbe.

Wie ich draußen an den geschlossenen Fensterläden vorbeigehe, höre ich gerade, wie der Arzt in höchst geschäftsmäßigen Tonfall sagt: "Wissen Sie, Gott, er könnte vielleicht mit dem Leben davonkommen, ich glaubs ja nicht, Cholera tj, tj, und wenn schon, verdummen würde er ja auf jeden Fall, und ich glaube, das ist dem jungen Mann unangenehm; das Beste wird sein, wir machen ihn tot; übrigens kommt mir das Herz gerade gelegen, um es zu zerschneiden".

Da fällt mir ein, daß der Arzt mein Kapitän ist, der mich über Bord geworfen hat. Ganz dieselbe einseitig hochgezogene Oberlippe und die glotzenden Sackaugen. Der Frack hat ja auch so teerig gerochen.

Ich sagte zu ihm: "Hören Sie, ich möchte doch noch erst Welkenbachs Mädchen  sagen, daß ich die Cholera habe, es ist nur ein Sprung; eigentlich kann ich noch ganz gut gehen. Könnten Sie mich nicht totmachen, wenn ich gestorben bin; wenn Sie sich beeilen, wird sich mein Herz auch dann noch ganz gut schneiden lassen."

"So???" - sagte der Klassenlehrer - "dann werde ich eben Sie einschreiben, Sie könnten wissen, was sich gehört!"  Dabei zieht er die Oberlippe rechts hoch. Ich freue mich, daß ich nicht zerschnitten werde, er schlägt befriedigt, würdevoll das Klassenbuch zu.  Ich bin wach.  - Wieland Herzfelde, Tragigrotesken der Nacht. Berlin 1920 (Malik)

Oberlippe (2)

- Wenzel Hollar, nach Leonardo da Vinci

 

Lippen

 

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