Nichtgeborener   Es wird Ihnen wie eine erbärmliche, lächerliche Sache vorkommen, einer jener Schandflecke, die man nicht zugibt, die ein Leben vergällen und die Freunde amüsieren: zum Beispiel ein Gehörnter zu sein, eine Dirne zur Tochter, einen Päderasten als Schwiegersohn zu haben. Pech, dem nicht abzuhelfen ist, und für das man auch kein Verständnis sucht. Ich bin ein iNichtgeborenen; und, so eilig wie möglich, füge ich hinzu: ein auf ewig und wahrhaftig Nichtgeborener; nicht der physiologisch Nichtgeborene, der noch zu Gebärende, der, das liegt auf der Hand, ein solcher bleibt, bis er eben geboren wird. Ich hätte vor einem halben Jahrhundert geboren werden sollen: ich wurde nicht geboren. Ich war, wie es der Brauch ist, anwesend bei der Hochzeit meiner mir bestimmten Eltern. Wie es der Brauch, hatte ich mit unglaublicher Dreckigkeit meine Witze gerissen über ihre Zeugungsfähigkeit; mich über ihre Bewegtheit lustig gemacht; getan, als ob ich die Geschlechtsteile meiner Mutter abmessen wollte. Ich lachte schmutzig, bepißte mich vor Lachen, machte abscheuliche Gebärden, äffte das Stöhnen der Umarmungen, der Empfängnis, der Geburt nach... Die Ungeborenen sind erbärmliche Flegel. Aber ich wurde nicht geboren. Wie dies geschah, ist mir bis heute schleierhaft, obgleich lehrreiche und wahrscheinlich scheinheilige Engel sich mehrmals daran versuchten, mir Bruchstücke einer Erklärung zu geben, über das, was geschehen ist zwischen jenem Mai und jenem November vor fünfzig Jahren.

Genug; an jenem Frühmorgen war ich bereit zu einer Geburt, die man für unmittelbar bevorstehend hielt; meine Seele war spiegelblank poliert, geglättet, auf Maß gebracht worden für ihren winzigen Körper, und dieser war unter verschiedenen Druckstärken und Hitzegraden ausprobiert worden, wie die Präservative. Die Maskenbildnerin bearbeitete mir die Augen, man probierte mir die Eingeweide an mithilfe imitierter Exkremente; kurz und gut, ich wurde sorgfältig über den Prüfstand geschoben und als zulässig befunden für die Aufgaben eines mäßig funktionalen Wesen, für welches man den homo sapiens hält. An jenem Morgen kamen zu mir zwei schwarzgekleidete Sbirren, die ich nie zuvor gesehen: Verscheidungsfachleute, Sachverständige für Katafalke. Aber sie trugen nicht die Todesgeräte bei sich, die man hätte erwarten können. Man sagte mir später, daß die Obmänner so verwirrt gewesen seien, daß sie an nichts anderes hätten denken können: sie schickten die Totenleute, weil sie am aufdringlichsten, schlausten, abscheulichsten sind. In Wirklichkeit waren die braven Männer völlig ratlos. Ihre großen behaarten Hände, die sie wie polstrige Affengreifer bewegten, Hände, die an langsames, geduldiges Abwürgen der Sterbenden gewohnt sind, zitterten und zuckten, als stünden sie vor Thronengeln und Herrschaftshütern oder anderen tyrannischen Cherubinen: und ich war doch nur ein dürftiges und namenloses Kindchen! Aber bereits ein Ungeheuer. Sie sagten mir, daß ein Gegenbefehl gekommen sei, und stellten sich als hätten sie ihn in der Hand; mit höchster Verlegenheit, mit Erröten und Stammeln taten sie so, als ob sie irgendein erlogenes Blatt Papier vorläsen; verkündeten, daß ich nicht geboren werden sollte, daß eine ›Programmänderung‹ vorläge.  - (nieder)

Geister

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Ungeborene