aivität  So viel steht fest, daß er keineswegs eine Verkörperung des kalten Phlegmas und der genauen Regelmäßigkeit des Verstandes und der Laune, die Sie bei einem Mann von solcher Abstammung erwartet hätten, darstellte, sondern vielmehr eine so quecksilbrige und sublimierte Mischung und ein so heteroklitisches Geschöpf in allen seinen Spielarten und mit ebensoviel Lebhaftigkeit, Schrulligkeit und gaité de cœur, wie sie nur das mildeste Klima hervorbringen und zusammensetzen kann. Bei allen diesen Segeln hatte der arme Yorick dennoch keine Unze Ballast geladen. Er hatte nicht die geringste Weltkenntnis; und im Alter von sechsundzwanzig Jahren wußte er ebensowenig, wohin er in der Welt steuern sollte, wie ein verspieltes, argloses Mädchen von dreizehn, so daß ihn bei seiner ersten Ausfahrt die frische Brise seiner Lebensgeister, wie Sie sich denken können, wohl zehnmal am Tage in fremdes Tauwerk trieb; und da ihm die Ernsthaften und Bedächtigeren am häufigsten in die Quere kamen, können Sie sich ebenfalls leicht vorstellen, daß es unglücklicherweise gerade solche Leute waren, mit denen er am ärgsten aneinandergeriet. Soviel ich weiß, war stets eine bestimmte Mischung von unglücklichem Witz die eigentliche Ursache aller dieser Händel; denn Yorick hatte, die Wahrheit zu sagen, von Natur aus einen unbezwinglichen Widerwillen und Abscheu gegen die Ernsthaftigkeit, nicht gegen die Ernsthaftigkeit als soldie, denn er konnte, wenn's darauf ankam, tage- und wochenlang der ernsthafteste und gesetzteste Sterbliche von der Welt sein; nein, der nachgeäfften Ernsthaftigkeit war er herzlich feind und sagte ihr offen den Kampf an, sofern sie nur als ein Deckmantel der Unwissenheit oder Narrheit erschien; und wenn sie ihm dann irgendwo begegnete, sie mochte auch noch so mächtigen Schutz haben, gab er ihr nur sehr selten Pardon.

Zuweilen pflegte er in seiner unbedachtsamen Art zu sagen, die affektierte Ernsthaftigkeit sei eine durchtriebene Schurkin, und zwar, so fügte er dann hinzu, von der gefährlichsten Sorte, weil sie so listig sei; und er glaubte wirklich, sie bringe in einem Jahr mehr ehrliche, wohlmeinende Leute um ihr Gut und Geld als Beutelschneider und Spitzbuben in sieben Jahren. In einem arglosen Gemüt, das ein fröhliches Herz verrate, sagte er, stecke keine Gefahr außer für den Besitzer selbst, während das wahre Wesen der affektierten Ernsthaftigkeit Vorsatz und folglich Betrug sei; es sei ein einstudierter Kunstgriff, welcher der Welt mehr Verstand und Einsicht, als tatsächlich vorhanden sei, vortäuschen solle; und ungeachtet alles dessen, wofür sie gerne gehalten werden möchte, sei sie doch nicht besser, sondern oft noch schlimmer als die Definition, die schon vor langer Zeit ein witziger Franzose von ihr gegeben habe, nämlich:

ein geheimnisvolles Bestreben des Körpers, die Gebrechen des Gemüts zu verbergen. Diese Definition der Ernsthaftigkeit, pflegte Yorick in seiner höchst unvorsichtigen Art zu sagen, verdiene mit goldenen Buchstaben aufgezeichnet zu werden.

Er war aber, um die Wahrheit zu sagen, sehr ungeschickt und unerfahren in der Welt, und er war ebenso unbedachtsam und töricht bei jedem anderen Gesprächsthema, bei dem die Klugheit gewöhnlich befiehlt, sich Zwang aufzuerlegen. Yorick kannte jedoch keinen anderen Zwang als den, welcher sich aus der Natur der Handlung, von der gerade gesprochen wurde, ergab, welchen Eindruck er dann gewöhnlich ohne alle Umschweife geradeheraus verkündete, und zwar nur zu oft ohne Rücksicht auf Person, Zeit oder Ort, so daß, wenn ein niedriges und unedles Vorgehen erwähnt wurde, er sich niemals einen Augenblick Zeit ließ, zu überlegen, wer der Held des Stücks sei, welchem Stand er angehöre oder wieviel Macht er habe, ihm selbst hinterher zu schaden; nein, falls eine schändliche Handlung vorlag, so war der Mann einfach ein schändlicher Kerl, und so weiter. Und da seine Kommentare unglücklicherweise meist mit einem witzigen Einfall endigten oder durchgängig von drolligen und humorvollen Ausdrücken belebt wurden, so verlieh das Yoricks Unvorsichtigkeiten Flügel. Mit einem Wort, obgleich er niemals die Gelegenheit suchte, sie aber auch selten mied, wo er geradezu und ohne viel Umstände sagen konnte, was ihm in den Sinn kam, war er in seinem Leben nur zu oft versucht, seinen Witz und seine Laune, seinen Spott und seine Scherze auszuschütten. Sie gingen nicht verloren, denn es gab immer Leute, die sie sammelten.  - (shan)

Naivität (2)  Von Kind an zeigte Flaubert zwei auffallende Charakterzüge, die er immer bewahrt hat: eine große Naivität und die Abscheu vor jeder körperlichen Handlung. Sein ganzes Leben blieb er naiv und seßhaft. Er konnte es nicht, ohne wild zu werden, vertragen, daß man in seiner Nähe auf und ab ging oder sich sonst rührte; und dann erklärte er mit seiner bissigen, tönenden und immer ein wenig theatralischen Stimme, daß dieses nicht philosophisch sei. «Man kann nur denken und schreiben, wenn man sitzt», sagte er.

Diese Naivität bewahrte er bis in seine letzten Tage. Dieser scharfsichtige und feinsinnige Beobachter schien nur aus der Entfernung klar zu sehen: sobald er selbst ans Leben rührte, sobald es sich um seine nächsten Nachbarn handelte, waren seine Augen wie verschleiert. Seine angeborene äußerste Rechtschaffenheit, sein unerschütterliches Vertrauen, die Großmut aller seiner Gemütsbewegungen, aller Impulse seiner Seele geben eine unzweifelhafte Erklärung dieser fortdauernden Naivität.  - Guy de Maupassant, Gustave Flaubert. Nach: G. F., Madame Bovary. Zürich 1967

Naivität (3) Ein paar Spötter der feineren, angenehmen Art schmiedeten ein Komplott von spezieller Güte. Es war weder überspannt noch grausam, es zielte lediglich darauf ab, Crébillon den Jüngeren glauben zu machen, er hätte jenen leichten, eleganten, delikaten, gelegentlich auch etwas (doch im richtigen Maße) bissigen Witz verloren, der ihm so vorteilhaft gestanden hat und ihm im Salon soviel Beliebtheit eintrug. Je mehr man selber solches Geistes Kind ist, desto weniger ist man davon überzeugt, es wirklich zu sein. Als nun Crébillon junior sah, wie die Tafelrunde seiner Freunde bei jedem Wort, das er zum besten gab, die Schultern hob, fing er tatsächlich an, sich einzubilden, es sei ihm nichts als Blödsinn aus dem Mund gekommen, obschon er doch brillanter denn je gewesen war. Er ließ sich in den nächsten Sessel fallen und rief zutiefst getroffen aus: »Also ist es doch wahr, meine Freunde, daß ich meinen Witz verloren habe! Ach! Schon seit geraumer Zeit hab ich's geahnt. Aber weshalb nur ließet ihr mich dennoch sprechen? Duldet mich - ich bitt euch -, wie ich bin, denn unmöglich ist mir, mich von euch zu trennen, selbst wenn ich nicht mehr würdig bin, an eurer Unterhaltung teilzuhaben!« Solch rührende Einfalt kann nur aus einer treuherzigen, allen falschen Stolzes baren Seele kommen. - Louis Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris. Frankfurt am Main 1979 (it 374)

Naivität (4)

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