Nagalismus   Die Religion, dieses «Opium fürs Volk», wie der Slogan des revolutionären modernen Proletariats lautet, war vor der Sprachverwirrung und der Zerstreuung der Rassen der Nagalismus, eine Art individueller Totemismus. Infolge einer Offenbarung im Traum oder während eines ekstatischen Zustands, bedingt durch Entbehrungen, Hungersnot, überlanges Fasten oder durch den Genuß einer Droge, den Saft von zerkauten Blättern oder ein gegorenes Getränk, oder im Gegenteil: durch eine Periode des Überflusses, nach der Beendigung einer erfolgreichen Jagdzeit, eines siegreichen Krieges, einer Metzelei, eines großen Abschlachtens, kurz: durch ein Übermaß an frischem Fleisch, Festivitäten, sexuellem Genuß, Tanz, fühlt der Mensch sich in enger Verbindung mit einem Geist, einem Lebewesen oder einem Ding.

Man ruft die Schatten herauf und praktiziert die Totenbeschwörung des Schamanen oder Zauberers, der Medizinmänner oder des Hexenmeisterkollegiums, und man befragt «seine eigenen» Gifte. Jeder hat seinen eigenen Geist, den Busch, den Sumpf, die Prairie, das Bled, den Wald, den Panther, den Adler, die Antilope, die Schlange, diese oder jene Mondphase, einen Stern, das Wasser, den Pelikan, einen Fisch, eine Krabbe, das Krokodil, den Wolf, eine singende Blume, ein Kraut aus der Einöde, einen bestimmten Stein, Baum, Vogel, Käfer oder Dorn. Das Totem, mit dem man sich identifiziert, ist der Ursprung des Dings, aus dem das Wesen hervorgeht, genau wie heute die Maschinen, die nicht nur das Genie des heutigen Menschen verkörpern, sondern auch die Zukunftsträume und die Heilserwartungen der ganzen Menschheit. Daher kommt es auch, daß zum Beispiel die Tankstellen an den makadamisierten Autostraßen den Götzenbildern der Primitiven so ähnlich sind: die gleichen stilisierten Formen, die gleichen grellen Farben, die gleichen Verzierungen, Glas, Spiegel, Messing, Nickel, die gleichen dunklen Spritzer, eingetrocknetes Blut oder Schmieröl, der gleiche Glanz; die modernen Leuchtreklamen ersetzen die rituellen Tätowierungen der Wilden, die Markenzeichen der großen Ölgesellschaften, die Signete der konkurrierenden Trusts, die Amulette der Eingeweihten. Das gleiche geistige Bedürfnis erzeugt die gleiche Ästhetik, um die gleiche Furcht, GOTT, auszudrücken, Gottvater, GOTT - und daher kommt es, daß die Tankstellen am Rande der Überlandstraßen und am Ausgang der Städte, ganz zu schweigen von Hochöfen, Fabrikschornsteinen und dem ganzen Industriekram, dem Durcheinander von Röhren, Traversen, Rädern, Kabeln, Funken, Rauchschwaden, Dampfstrahlen, aufblitzenden Lichtern, elektrischen Entladungen, die aus der Tätigkeit des heutigen Menschen ein tragisches Schauspiel machen, gruppenweise auftreten, Kreise bilden. Jedes trägt ein Firmenschild wie eine Negermaske, die sich nachts belebt und das Gegenüber erschreckt. Die Götzenbilder scherzen nicht oft, aber die Maschinen nie. Sie knirschen mit den Zähnen. Das ist grauenhaft.   - Blaise Cendrars, Sternbild Eiffelturm. Zürich 1982 (zuerst 1949)

 

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