Nachtflug    Schwarz, unter bläulicher Neonaureole, überflog er die Stadt. Mäßig die Flügel bewegend zu Paaschs langsamen Intonationen aus dem Repertoire von Joe Chudacs Fünfuhrnachmittagssendung Are you listenin'? Magie und Technik verbindend, weltumspannend, Shearing aus mitternächtiger Kurzwelle, die vier Ecken der Stadt bestreichend. Vor dem Peterstore neben der Kirche spannt' er seine azotenen Flügel aus. Erreicht den Westen, der hier immer der Osten gewesen, mit mehr proletarischen Mietshäusern als grünumlaubten Villen, deren größte den nach neuesten Gesichtspunkten bestimmten Komfort einer Entziehungsanstalt hinter Fassaden der Gründerzeit versteckt hält; deren zweitgrößte die hygienische Behaglichkeit in Weiß und Blau eines Säuglingsheims.

Doch bot auch der Osten leiblicher und geistiger Not Abhilfe. Arlecq, nicht ohne die Wehmut der Erinnerung, die leise Beunruhigung der Vorahnung, streift die Gebäude der Krankenhäuser und Irrenanstalten. Dann die große ,Bücherei, Abbild des Kosmos: Arlecq streichelt mit verschämtem Flügelschlag sanft die marmornen Brüste der sinngebenden Figuren, die dem Passanten der Straße die Rätsel der Sphinx gegen ein Eintrittsgeld lösen.

Lächelnd, Indes ihre Linke den Kanten eines Vorbaus stützen, triumphierend Erker und Balkone tragen, auf der einen Straßenseite die der Bücherei, auf der ändern die der Klinik, an deren Fenster Ärzte Röntgenbilder beschauen und Witze auf den russischen Popen erfinden, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Einkäufe m einer gedruckten Rede des Patriarchen Alexej nach Hause trägt, m die beiden Gemächer neben der Russischen Kirche. Vergoldete Tauben mit weißen Schnäbeln kreuzen Arlecqs Flug.

Nord und Süd kommen ihm belangloser vor, wollte man nicht die vielen Namensänderungen der großen geraden, zu großstädtisch geraden Ausfallstraße berücksichtigen - ein belangloses Faktum für den Abfallhaufen der Historiker im Institut für Geschichte der Neuzeit, das im Gebäude des Amtsgerichts der Straße aufsitzt wie das Haus des Fährmanns dem Fluß. Arlecq vermeidet den Flug m die Auenwälder des Nordens und Nordwestens, beschränkt sich gleitend auf das Viereck der inneren Stadt, die er liebt, Nußschale mit dem Kern der beiden Rathäuser, dem neuen und alten. lsabels Name wird ausgesprochen, als er, vom Markt kommend, die Giebel .des ockerfarbenen Rathauses erreicht, des alten, sechsgiebh-gen. Ein Flügelschlag weiter macht es ihm seine serafische Struktur leicht, auf einem der schmiedeeisernen Balkone auf der Außenfront der Universitätsruine zu stehen, der mit der Leichtigkeit eines Scherenschnitts am Weißgrau der Mauer haftet. Die Ruine aber täuscht nur dem Mond Leblosigkeit vor. Verziehn sich die ersten Frühnebel, ziehen die Geister der Aufklärung, am Leibniz-Denkmal defilierend, in die abgestützten Räume und Hörsäle. Man weiß nicht, ob im Auftrag der Rathausherren (denen zu begegnen sein wird) oder des Kulturredakteurs der Volkszeitung (dem nicht zu begegnen sein wird). Hätte es Goethe nicht gegeben, denkt Arlecq auf dem Balkon und beweist die Erziehung, die er genossen, man müßte ihn erfinden. Doch der Gedanke verleiht zuviel Schwere. Das Schlimmste verhütend, fliegt er ab.   - Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh. Leipzig 1993 (zuerst 1975)

Fliegen Nacht


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