acht,
substantielle
Die Region, deren nicht weniger eigentümliche als beängstigende Eigenschaften
wir eingehend untersucht haben, nennen wir gemäß den Anleitungen eines schlechten
schulmeisterlichen Geschmacks das Land der
Kimmerier; wo sich dieses Land befindet, braucht
nicht eigens hervorgehoben zu werden, denn alle, die sich mit dem vorliegenden
Dokument befassen, wissen darüber durch persönliche Erfahrung oder indirekt
Bescheid. Es ist bekannt, welche Eigenart die Beschäftigung mit dem kimmerischen
Land so verführerisch und zugleich so schmerzlich macht; kurz: Dort herrscht eine dauerhafte und vollkommene Nacht, von keinem Morgengrauen
je verdrängt und, soviel man weiß, niemals von einem Sonnenuntergang angekündigt.
Im aristotelischen Sinn müßten wir diese Nacht als eine substantielle bezeichnen,
eine Substanz Nacht also, die so ewig zu sein scheint wie die Welt und die,
obwohl sie nur einen verschwindend kleinen Teil der Welt bedeckt, deren gesamte
Geschichte bedingt und berührt. Das kJmmerisch genannte Gebiet wird allem Anschein
nach zum Teil von der substantiellen Nacht nicht eigentlich bedeckt, sondern
vielmehr gestaltet; und das geschieht nicht durch ihre unwandelbare Beständigkeit,
sondern durch ein Deutungsvermögen, mit dem die Nacht auf die von ihr eingenommene
Gegend einwirkt. Die Nacht ist, unserer Ansicht nach, die Bedeutung jenes Landes;
so, wie wir gemerkt haben, daß die Bedeutung der Welt, in der wir leben, und
zu der die Nacht als Akzidens gehört, der Wechsel von Frost und Hitze, das Erscheinen
und Verschwinden der Blüten und der von uns als kurzlebig bezeichneten Insekten
ist. Wie wir wissen, ist die kirnmensche Nacht durchaus nicht unvereinbar mit
dem Leben; diesem Zustand, der uns widernatürlich erscheint, entspricht offenbar
dem Wesen und sogar der Natur nach eine eigene Art von Leben.
- Giorgio Manganelli, Kometinnen
und andere Abschweifungen. Berlin 1997
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