uttersöhnchen  Hattie ist jetzt wahrscheinlich neununddreißig oder vierzig. Sie ist nicht so hübsch, wie ich sie als Kind in Erinnerung habe - damals dachte ich, sie sei die schönste Frau der Welt -, aber sie sieht immer noch so gut aus, daß man zweimal hinschaut.

Ich stellte das Geschirr ins Abwaschbecken. Ich bewegte mich an der Kante des Abtropfbrettes entlang und lächelte vor mich hin, als ich sah, wie sich ihre Nackenmuskeln versteiften, während ich aus ihrem Blickwinkel verschwand.

Ich stand genau hinter ihr, bevor ihre Furcht sie dazu zwang herumzuwirbeln. Sie wich an den Herd zurück und streckte die Hände abwehrend von sich.

»Aber, Mutter«, sagte ich. »Was ist denn los? Du hast doch nicht etwa Angst vor deinem eigenen, herzallerliebsten Sohn, oder?«

»Hau ab!« Sie rollte die Augen, so daß das Weiße zu sehen war. »Laß mich in Ruhe, hörst du?«

»Aber ich wollte doch nur einen Kuß«, sagte ich. »Nur einen Kuß von meiner lieben, süßen Mutter. Schließlich habe ich keinen mehr bekommen seit ich drei war, oder? Eine sehr lange Zeit für ein Kind, ohne Kuß von seiner eigenen Mutter auszukommen. Ich kann mich daran erinnern, daß ich ziemlich erschüttert war, als...«

»L-laß das!« stöhnte sie. »Du weißt überhaupt nicht, was... Verschwinde. Ich sag's dem Doktor, und er...«

»Willst du damit sagen, daß du nicht meine Mutter bist?« sagte ich. »Bist du es wirklich nicht?«

»N-nein! Ich hab's dir doch gesagt, oder? Ich bin nichts, ein Niemand! Ich - ich...«

»Also gut«, sagte ich achselzuckend. »In diesem Fall...«

Ich umklammerte sie plötzlich und drückte sie fest an mich, wobei ich ihre Arme gegen die Hüften quetschte. Sie keuchte, stöhnte, wehrte sich vergeblich. Sie schrie natürlich nicht um Hilfe.

»Wie war's damit?« sagte ich. »Wenn du nicht meine Mutter bist. So bleibt alles in der Familie, oder? Was meinst du, sollen wir...«

Ich ließ sie lachend los.

Ich trat zurück, wischte mir ihren Speichel aus dem Gesicht.

»Aber, Hattie«, sagte ich. »Warum um alles in der Welt hast du das getan? Alles, was ich wollte, war doch... Wie?« Mein Herz schlug rasend, und ich hatte einen Kloß im Hals. »Was? Ich glaube nicht, daß ich dich richtig verstanden habe, Hattie.«

Sie sah mich zähnebleckend an. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, voller Verachtung. Nein, es war mehr als Verachtung, mehr als Ekel und Haß.

»Du hast schon richtig gehört«, sagte sie. »Du hast nie was ausrichten können. Hast es nie gekonnt, wirst es nie bringen.«

»So?« sagte ich. »Bist du dir dessen sicher, meine liebste Mutter?«

»Ha! Ich werd's dir sagen.« Ihr Grinsen glich dem eines Totenschädels. »Ich bin mir ganz sicher, mein liebster Sohn.« - (thom)

Muttersöhnchen (2)  In einer gewissen Stadt deß Teutschland, hatte ein Mutter einen einigen Sohn, dem sie aber allzuvil geheuchlet, unnd von Kindheit auff mit ihm, als mit einem zarten Biscotten=Taig umbgangen. Er war ihr einiges Hertzl, Schertzl, er hätte im achten Jahr noch kein Ruthen gesehen, und als man ihm solche zeigt, wuste er gar nicht, was dises vor ein Mee=Wunder seye. Er schaute sie an nicht anderst, als ein Kuhe ein neues Stadl-Thor, unnd weilen er dazumahl schon under der Sorg deß Praeceptors war, also hat solcher pflichthalber einen Ernst unnd keonen Clement abgeben; dann er vermerkte in disem Knaben dieer Natur der Brenneßl, wann man solche glimpflich tractirt, so brennen sie, da mans aber stark und hart reibet, so schaden sie nichts. Nahm also der gute Praeceptor stäts die Ruthen in die Hand, und gedachte wo solcher Zeiger seye, könne die Uhr nicht unrecht gehen. Aber die Mutter wote solches auff keine Weis zulassen, maßen ein jeder Straich, den der Praeceptor  versetzte disem Zucker=Affen, ware ein Echo oder Widerhall in dem Mütterlichen Hertzen, also zwar, daß sie ihn nur den groben Trescher nennte, der kein andres Gewerb verstehe als treschen treschen. Einest mußte er Noth halber den hültzernen Kometstern in die Hand nehmen, und weilen etwann auß Einrathung der böse Bub ein großes Geschrey verbrachte, also ist die Mutter gantz eilends zugeloffen, den Praeceptor mit faimenden Maul wie ein Wißl angeblasen, huy Trescher! wie gibts Treschen auß! worauff der Praeceptor geantwortet: Frau gar schlecht, lauter Stroh, lauter Stroh, kein Trayd auff mein Ayd. Und ware dem also, dann der Knab ein lauter Strohkopff verbliben, und weilen nachmals dem Praeceptor die Ruthen gänzlich verbotten worden, also ist dieser saubere Gesell ohne Wissen und Gewissen auffgewachsen. Nach der Mutter Tod hat er das seinige fein  förderlich durchgejaget. Vivendo luxuriosè: mit lustigen, listigen, lästerlichen Leuthen umbgangen. - Abraham a Santa Clara, Judas der Ertz=Schelm. Darmstadt 1968 (zuerst 1686)

Muttersöhnchen (3)   »Fette und alte Weiber«, sagte er, »das ist nichts für mich.«

 »Harald«, schrie sie.

Er hörte die laute Stimme gar nicht. »Man muß mit seinen Empfindungen in der eigenen Generation bleiben. Anders Geartete verlieren sich in Perversitäten.  In dieser Beziehung geben die Gesetze uns Aufschluß.«

»Harald«, schrie sie.

Er hörte die laute Stimme gar nicht. »Liebe zwischen einer alten Frau und einem jungen Mann ist immer gleichbedeutend mit Geschlechtsverkehr zwischen Mutter und Sohn. Manche Frau weiß sich zu konservieren.«

»Harald«, schrie sie.

»Wenn ich dir mit meiner Rhetorik heute etwas nicht Hierhergehöriges vortrage, magst du mich meinetwegen ohrfeigen. Oder mir einen Tritt in den Hinteren versetzen.« Er warf sich herum, zeigte seine Oberschenkel. »Harald«, hauchte sie, halb bewußtlos. »Du solltest dir einen Liebhaber anschaffen«, sagte er, »deine monatlichen Kopfschmerzen sind ziemlich unerträglich. Ich kann dir mit nichts dienen. Wie du weißt. Lange genug habe ich kurze kniefreie Hosen getragen. Ich werde künftig lange Hosen tragen. Ich möchte zwischen uns klarstellen: Du mußt mich lieben. Und ich kann dich nicht lieben. Du wirst aufhören mich zu lieben, wenn du einen Bettgenossen gefunden hast. Du liebst mich schon wenig, wenn der Kapitän im Hause ist. Wiewohl du vorgibst, ihn zu hassen. Ich verzeihe dir alles. Im übrigen bist du meine Mutter. Was das bedeutet, kannst nur du fühlen. Der Geborene kann es nicht fühlen. Ich strauchele bei dem Gedanken. Du warst früher da als ich. Du hast mich wachsen sehen. Ich habe dich nicht wachsen sehen. Nur altern. Als ich geschlechtslos war, warst du strotzend von Geschlecht.«

Sie sagte sehr ruhig: »Ich liebe dich, weil ich dich geboren habe.«

»Ganz im Gegensatz zur Auffassung des Gesetzes die einzige Rechtfertigung einer Liebe aus der Generation heraus. Ich habe dir auch gesagt, ich verzeihe dir. Übrigens bin ich ziemlich häßlich. Und deine Augen sind betrogen worden.«

Sie weinte. Das ging an seine Seele. Er wurde mitleidig. »Ich gönne dir auch einen jungen Liebhaber«, sagte er, »wenn er sich überwindet oder dumm ist. Ich mißgönne dir nichts.« - (jah)

Muttersöhnchen (4)  Ein kleines, rotbäckiges Bürschlein in blauem Matrosenanzug, achtzehn Jahre alt, Sowjetmarine. Es scheint, daß sie Berlin auch vom Wasser her erobert haben. Seen haben wir ja genug. Das Matröslein sieht aus wie ein Schuljunge und lächelt treuherzig über beide Backen, als er mich halblaut fragt, ob er mich um etwas bitten dürfe.

Bitte sehr! Und ich winke ihn zum Fenster hin, durch das noch immer Brandgeruch hereinweht. Der Matrose ersucht mich dann höflich, ganz kindlich, ich möchte doch so gut sein und ihm ein Mädchen besorgen - aber ein sauberes und ordentliches müßte es sein, ein gutes und liebes - er würde ihm auch zu essen bringen.

Ich starre den Knaben an, habe Mühe, nicht mit Gelächter herauszuplatzen. Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizeiliches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf! Aber der Kleine blickt so hoffnungsfroh drein, hat die so zarte Haut eines guten Mutterkindes, daß ich ihm nicht böse sein kann.  - Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Berlin  2005 (zuerst 1954)

Muttersöhnchen (5)  

 

- N. N.

 

Söhnchen

 

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