Mutter Erde  Er hörte in den Lüften ein entsetzliches Krachen. Aus dem heiteren Blau raste Feuer, und eine Donnerstimme schrie Worte des Zorns. Erschrocken duckte sich Prometheus in den Wald zurück. Es war kein anderer als Kronos, der oberste Herr der Titanen, der zürnend zur Erde niederfuhr.

Gaia trat ihm entgegen. Prometheus erkannte sie anfangs nicht, denn nun zeigte sie sich als uraltes Wesen. Ihr Gesicht war schwarz, ebenso ihre Hände und ihre Füße; ihr Gewand war aus grauem Sandstein, ihr Haar war wie das Silber, das morgens im Herbst auf den Wiesen liegt, und ihre Stimme klang wie das langsame Rauschen des Regens, als sie nun fragte: «Was begehrst du von mir, Kronos, mein jüngstes Kind? Es freut mich, daß du wieder einmal deine Mutter besuchst!»

Sie hob den Arm, ihn zum Gruß um die Schulter des Sohnes zu legen, allein Kronos stieß sie zur Seite. Er war schrecklich anzusehen: Über seine Stirn liefen blaue Flammenschauer, aus seinen Haaren sprühten Funken, und von der Mitte seines Leibes zuckte ein seltsames Flimmern in die Tiefen des Erdballs hinab. «Wer war bei den Hundertarmigen?» fragte Kronos. Seine Worte klangen, als ob Felsen sie schrien.

«Willst du deine Mutter nicht grüßen?» antwortete Gaia mit tonloser Stimme.

«Ich bin auch für dich nichts anderes als der Herrscher», entgegnete Kronos. «Wer war bei den Hundertarmigen? Mein Gürtel hat gezuckt. Mich wirst du nicht betrügen!»

Prometheus begann vor Angst zu zittern.

«Auch sie sind meine Kinder», sagte Gaia leise, «auch sie wollen leben und sich satt schauen und satt hören und satt essen und satt trinken - »

«Und uns alle vernichten!» warf Kronos ein. Wütend riß er am Gurt, und das Geheul der Hundertarmigen quoll aus den Tiefen der Erde wie Blasen auf. «Hörst du sie?» sprach Kronos. «Sie heulen nach der Stunde, da sie loskommen und über uns herfallen. Furchtbare Geschöpfe hast du hervorgebracht, Gaia!»

Da Kronos das sagte, wurde das Gesicht der Erde grau.

«Sie sind meine Kinder wie du und deine Geschwister», sprach sie und brauchte Stunden für jedes Wort. Prometheus wagte sich nicht zu rühren. Er hatte die Augen geschlossen, damit Kronos ihr Funkeln nicht sähe. Solch einen Streit hatte er noch nie gehört. Er fürchtete, der Herrscher werde ihn, den frechen Belauscher dieses Gesprächs, zu den Hundertarmigen in die Unterwelt sperren, und Kronos, hätte er Prometheus gewahrt, würde gewiß so gehandelt haben. Doch er glaubte nicht, daß ihn jemand höre. Er wähnte alle Titanen in den dämmrigen Milchstraßengrotten, und bis dorthin wäre nicht einmal das Heulen der Hundertarmigen gedrungen. Darum schalt Kronos die Uralte, die doch seine Mutter war, ohne Maß und Beherrschung.

«Du wagst es, dich solcher Mißgestalten zu rühmen», schrie er; «du wagst es, dich zu Kindern zu bekennen, die man einkerkern muß, damit sie nicht die eigene Mutter zerstückeln!» Wieder riß er am Gürtel, und wieder heulten die Hundertarmigen, und ihr Geheul war so schrecklich, daß die Bäume vor Mitleid seufzten.

«Quäl meine wehrlosen Kinder nicht, du Ungeheuer!» rief Gaia. «Sie schreien nach ihrer Mutter, und ihre Mutter kann ihnen nicht beistehn!»

Da packte Kronos mit beiden Händen die Schultern der Alten und fragte drohend: «Du bist also unten gewesen? Sag die Wahrheit, sonst reiße ich deine Brut in Stücke!»

«Ja, ich war bei meinen lieben Söhnchen», erwiderte Gaia. «Sie leiden unsäglich in ihrem Kerker, wie sollte da ihre Mutter sie nicht zu trösten suchen?»   - Franz Fühmann, Prometheus. Die Titanenschlacht. In: F. F., Marsyas. Mythos und Traum. Leipzig 1993 (Reclam 1449, zuerst 1974 ff.)

 

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