usikwissenschaft Zweirad und Malerei machten ihnen keinen Spaß mehr, so entschlossen sich Bouvard und Pécuchet, ernsthaft sich an die Musik zu machen. Pécuchet gab seine Stimme - als alter Freund der Tradition und der Ordnung und als treuer Anhänger der munteren Lieder - der heiteren Muse und dem »schwarzen Domino«, hingegen war Bouvard, immer revolutionär - man muß es sagen - »ein strammer Wagnerianer«. Um die Wahrheit zu gestehen, kannte er keine einzige Partitur des »Schreihals von Berlin«, wie ihn grauenhafterweise Pécuchet benamste, der stets Patriot und stets Ignorant war. Denn woher sollte er sie kennen? Hier in Frankreich war's unmöglich, das Konservatorium krepiert in der Routine, zwischen Colonne, der hohnlacht, und Lamoureux, der buchstabiert - ebenso unmöglich auch in München, wo sich noch keine Tradition gebildet hat - noch auch in Bayreuth, das von den Snobs unerträglich verseucht ist. Ebenso ist es ein Unsinn, die Partitur auf dem Piano zu spielen, die Illusion der Szene ist unerläßlich, ebenso das versenkte Orchester und die völlige Verdunklung des Saales. Immerhin blieb, um alle Besucher niederzuschmettern, das Vorspiel zu »Parsival« stets geöffnet auf dem Klavierpulte, zwischen den Photographien des Federhalters von César Franck hier und der Photographie von Botticellis »Frühling« dort. In der Partitur der »Walküre« war »Winterstürme wichen dem Wonnemond« sorgfältig ausgerissen. In dem Verzeichnis der Wagneropern waren auf der ersten Seite »Lohengrin« und »Tannhäuser« mit empörtem Schwung mittels eines roten Stiftes ausgestrichen. »Rienzi« allein fand von allen Jugendopern Gnade. Es zu leugnen, sei doch banal, die Entscheidungsstunde sei gekommen - versuchte listig Bouvard -, die Stunde, eine neue, gegenteilige Ansicht zu inaugurieren. Gounod war direkt lächerlich, Verdi war zum Schreien. Weniger freilich als Erik Satie, wer wagt es zu leugnen? Indessen erscheint doch Beethoven beachtlich in der Art eines Messias. Selbst ein Bouvard konnte, ohne sich zu demütigen, in Bach einen Vorläufer grüßen. Saint-Saëns ist ein Windhund, Massenet formlos - so wiederholte er unaufhörlich gegen Pécuchet, in dessen Augen wiederum Massenet ein Windhund und Saint-Saëns ohne Form war.
»Die Sache ist so, daß der eine uns belehrt, der andere uns bezaubert, ohne uns emporzuheben«, darauf bestand Pécuchet.
Für Bouvard waren beide tadelnswert in gleicher Weise. Massenet hatte einige
Ideen aufgegriffen, zwar waren sie banal, und auch Ideen hatten ihre Zeit, Sant-Saëns
hingegen besaß einigermaßen Stil, wenn auch veralteten. Über Gaston Lemaire
waren sie nicht ganz im klaren, aber es kam die Zeit, da sie wortreich Chausson
und Chaminade einander gegenüberstellten. Übrigens war es Pécuchet, trotz seiner
ästhetischen Bedenken und aus vollem Herzen (jeder Franzose ist ritterlich und
gibt den Frauen immer den Vortritt) - mit einem Wort, beide gaben aus Galanterie
der Dame Chaminade den ersten Platz unter den Tageskomponisten. -
Bouvard & Pécuchet, nach: Marcel Proust, Tage der Freuden. Frankfurt am Main 1965 (BS 164,
zuerst 1896)
Musikwissenschaft
(2) Ohne daß man wußte, wie er gekommen
war, erschien mit einemmal hinter dem Klavier ein weißhaariger Herr mit
Hängebacken. Er war in Schwarz gekleidet und strich mit der rosigen
Hand über eine Kette, die quer auf seiner Phantasieweste lag. Oliveira
kam die Weste ziemlich speckig vor. Man vernahm den dürren Beifall eines
Fräuleins mit violettem Regenmantel und goldgefaßter Brille. Mit einer
schnarrende! Stimme, die außerordentlich an die eines Papageis
erinnerte, hob der hängebackige Alte zu einer Konzerteinführung an, dank
derer das Publikum erfuhr, daß Rose Bob eine ehemalige Klavierschülerin
von Madame Berthe Trépat war, daß die »Pavane« von Alix Alix ein hoher
Offizier des Heeres komponiert hatte, der sich unter solch bescheidenem
Pseudonym verbarg, und daß beiden Kompositionen ausschließlich die
modernsten Verfahren musikalischer écriture zugrundelagen. Was nun die
»Synthese Delibes-Saint-Saēns« beträfe (und hier hob der Alte verzückt
den Blick), so stelle sie innerhalb der zeitgenössischen Musik eine der
tiefgründigsten Innovationen dar. Die Urheberin, Madame Trepat, habe sie
als »schicksalhaften Synkretismus« bezeichnet, und diese Kennzeichnung
sei insofern richtig, als das musikalische Genie von Delibes und von
Saint-Saēns zur Osmose tendiere, zur Interfusion und Interphonie, die
jedoch durch den exzessiven Individualismus des Abendlandes gehemmt
worden seien und niemals zu einer höheren und synthetischen Schöpfung
hätten werden können, wäre hier nicht die geniale Intuition Madame
Trepats zur Mittlerin geworden. In der Tat habe ihre Sensibilität
Affinitäten erfaßt, die dem normalen Hörer entgingen, und so habe sie
die edle, wenngleich mühsame Mission auf sich genommen, zum
brückenschlagenden Medium zu werden, damit die Begegnung dieser beiden
großen Söhne Frankreichs sich vollziehen könne. Er wolle bei dieser
Gelegenheit darauf hinweisen, daß Madame Trepat, abgesehen von ihrer
Tätigkeit als Musiklehrerin, in Kürze ihre Silberhochzeit im Dienst der
Komposition begehen werde: Der Redner wage es nicht, im Rahmen einer
bloßen Einführung in ein Konzert, das, wie er zu seiner Freude sehe, vom
Publikum mit Ungeduld erwartet werde, das musikalische Schaffen von
Madame Trépat so zu analysieren, wie das eigentlich notwendig wäre.
Immerhin könne er, um denen, die zum ersten Mal das Werk von Rose Bob
und Madame Trépat hörten, eine Richtschnur zu geben, ihre Ästhetik unter
dem Begriff antistrukturelle Konstruktion zusammenfassen, das heißt,
autonome Klangzellen, Frucht reiner Inspiration, durch die allgemeine
Intention des Werks zwar verkettet, aber frei von klassischen
dodekaphoniscben oder atonalen Formen (die beiden letzten Bezeichnungen
wiederholte er emphatisch). So zum Beispiel gingen die »Trois mouvements
discontinus« von Rose Bob, der verehrten Schülerin Madame Trépats, von
der Reaktion aus, die das heftige Zuschlagen einer Tür im Geiste der
Künstlerin hervorgerufen habe, und die 32 Akkorde, die das erste
Mouvement ausmachen, seien ebensoviele Auswirkungen dieses Schlages auf
ästhetischer Ebene. Der Redner glaube kein Geheimnis zu verletzen, wenn
er dem gebildeten Auditorium anvertraue, daß die Kompositionstechnik der
»Synthese« auf die ursprünglichsten und geheimsten Kräfte der Schöpfung
zurückgehe. Niemals würde er vergessen, daß ihm das hohe Vorrecht
zuteil geworden sei, einer Phase der Synthese beigewohnt und Madame
Trepat geholfen zu haben, ein Pendel über die Partituren der beiden
Meister zu halten, um diejenigen Passagen auszuwählen, deren Einfluß auf
das Pendel die erstaunliche und originäre Intuition der Künstlerin
bestätigt habe. Und obwohl noch vieles zu bemerken wäre, halte es der
Redner für seine Pflicht, sich zurückzuziehen, nicht jedoch ohne zuvor
in Berthe Trepat einen der Glanzpunkte des französischen Geistes und ein
pathetisches Beispiel für ein vom großen Publikum unverstandenes Genie
begrüßt zu haben. - (ray)
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