Musikwirkung  Oh, ewige fußbodengekachelte Männertoilette Köln, Hauptbahnhof! Sie hat Gedächtnis. Ihr geht kein Name verloren: denn wie zuvor in neunter und zwölfter Buhne der Name des Feldgendarmen und der Name des Beisitzers geschrieben standen, steht nun lesbar Name und Adresse des vormaligen Sonderrichters Alfred Lüxenich, exakt gestochen in die Emaille der zweiten Buhne von links: Aachen, Karolingerstraße hundertzwölf.

Dort gerät Matern auf seinem Rachefelzug  in Musikerkreise. Amtsgerichtsrat Lüxenich ist der Meinung, Musik, die große Trösterin, könne über die schlimmen und verworrenen Zeiten hinweghelfen. So rät er Matern, der gekommen ist, den vormaligen Sonderrichter zu richten, sich erst einmal den zweiten Satz eines Schubert-Trios anzuhören: Lüxenich meistert die Violine; ein Herr Petersen ist nicht ungeschickt auf dem Piano; Fräulein Oetting handhabt das Cello; und Matern, mit unruhigem Hund, hört gefaßt zu, obgleich sein Herz, seine Milz, seine Nieren genug haben und auf ihre verinnerlichte Art zu husten beginnen. Danach bekommen Materns Hund und Materns drei empfindliche Organe den dritten Satz des gleichen Trios zu hören. Woraufhin der Amtsgerichtsrat Lüxenich mit sich und dem Cellostreichen des Fräulein Oelling nicht vollauf zufrieden ist: «Aber aber! Bitte den dritten Satz noch einmal; und sodann wird Ihnen unser Herr Petersen, übrigens Mathematiklehrer am hiesigen Karls-Gymnasium, die Kreutzersonate spielen; ich meinerseits möchte den Abend, bevor wir uns ein Gläschen Mosel zu Gemüte führen werden, mit einer Bachschen Violinsonate abschließen. Fürwahr, ein Stückchen für Kenner!»

Jede Musik fängt an. Matern verfällt mit unmusikalischem Oberkörper klassischem Takt. Jede Musik füttert Vergleiche. Er und das Cello zwischen den Knien des Fräulein Oelling. Jede Musik deckt Abgründe auf. Das zieht, zerrt und untermalt Stummfilme. Die Großen Meister. Unvergängliches Erbe. Leitmotive und Mordmotive. Gottes frommer Spielmann. Im Zweifelsfall Beethoven. Der Harmonielehre ausgeliefert. Wie gut, daß niemand singt; denn er sang silberte schäumte: Dona nobis. Stimme immer im Oberstübchen. Ein Kyrie, das Zahne zog. Butterweiches Agnus Dei. Schneidbrenner: Knabensopran. Denn in jedem Dicken verbirgt sich was Schlankes, das will raus und höher als Kreis-und Bandsäge singen. Die Juden singen nicht, er sang. Tränen kullern über die Briefwaage, schwerwiegend. Nur wahrhaft Unmusikalische vermögen bei ernster klassischer deutscher Musik zu weinen. Hitler weinte beim Tod seiner Mutter und anno achtzehn, als Deutschland zusammenbrach; und Matern, der gekommen ist, zu richten mit schwarzem Hund, weint, während der Studienrat Petersen des Genies Klaviersonate Ton für Ton anschlägt. Er vermag, während Amtsgerichtsrat Lüxe-nich die Bachsche Violinsonate aus heilgebliebenem Instrument Note für Note herausstreicht, den hochgehenden Strom nicht zu dämmen.    - Günter Grass, Hundejahre. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1963

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